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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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meldete sich Tom zurück. »Ja?«
    Lena nahm all ihren Mut zusammen. »Ich bin’s, Lena«, sagte sie. »Machst du mir auf?«
    Dieses Mal dauerte das Schweigen noch länger. Dann erklang ein Summen, und die Tür sprang einen halben Zentimeter weit auf. »Dritter Stock«, drang Toms Stimme aus dem Lautsprecher. »Komm hoch.«
    Auch das Licht im Treppenhaus ging automatisch an, als sie eintraten, und Lena registrierte erneut, dass auch das Innere des Plattenbaus sauberer und in einem besseren Zustand war, als sein Äußeres erwarten ließ. Dennoch … passte es irgendwie nicht zu Tom. Sie war irritiert.

    »Du bist noch nicht oft hier gewesen, wie?«, fragte der Taxifahrer.
    Statt zu antworten, steuerte sie die Treppe an und lief, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, hinauf, bevor er auf die Idee kommen konnte, mit dem Lift zu fahren, hielt aber auf dem ersten Absatz wieder an, um ihn aufholen zu lassen. Er sagte nichts dazu, bedankte sich aber mit einem schrägen Blick und schnaufte hörbar. An seinem Hals pochte eine Ader, deren Anblick etwas Hypnotisierendes hatte. Sie wandte sich mit einem Ruck um und ging dann - langsamer - weiter.
    Sie betraten einen langen Flur mit schmuddeligen Wänden, von dem zahlreiche Türen abzweigten. Lena kam es so vor, als wären es Hunderte. Die Wohnungen dahinter konnten kaum größer als Schuhkartons sein. Und sie hatte nicht die leiseste Ahnung, in welcher davon Tom wohnte.
    Wenigstens diese Entscheidung wurde ihr abgenommen. Gleich die erste Tür neben der Treppe ging auf, und ein völlig fassungsloser Tom trat einen halben Schritt heraus, starrte sie aus aufgerissenen Augen an und wollte schon etwas sagen, aber Lena kam ihm zuvor.
    »Gott sei Dank bist du da«, sagte sie. »Ich hatte schon Angst, dass du nicht zu Hause bist.« Tom starrte sie einfach nur weiter verdutzt an, hob dann wie in Zeitlupe den Arm, legte die Hand auf das großformatige Pflaster, das er jetzt anstelle des Verbands trug, und setzte schließlich dazu an, etwas zu sagen, aber Lena fuhr rasch fort: »Mir ist da was Dummes passiert. Hab meinen Geldbeutel zu Hause vergessen. Bist du so lieb und zahlst den Taxifahrer? Du kriegst es wieder.«
    Tom sah jetzt ein bisschen so aus, als würde ihn im nächsten Moment der Schlag treffen, aber Lena drängelte sich einfach an ihm vorbei in die Wohnung und plapperte fröhlich weiter.
    »Und gib ihm ein anständiges Trinkgeld, ja? Er war wirklich
nett zu mir. Heutzutage trifft man ja kaum noch echte Gentlemen.«
    Tom drehte sich schwerfällig zu ihr herum und wollte etwas sagen, aber diesmal unterbrach ihn der Taxifahrer: »Macht einundzwanzig dreißig.«
    Beinahe tat Tom ihr sogar leid. Er starrte sie an, dann den Taxifahrer und dann wieder sie, griff dann unbeholfen in die Hosentasche, um eine Handvoll zerknautschter Geldscheine hervorzukramen, und zählte dreißig Euro ab. Er drückte sie dem Taxifahrer in die Hand und schloss die Tür, bevor der Mann auch nur einen Laut herausbekam.
    Lena hatte inzwischen die Diele durchquert und das Wohnzimmer erreicht, in dem sie sich neugierig umsah. Es war tatsächlich so winzig, wie sie erwartet hatte, beinahe noch kleiner als das Wohnzimmer ihrer Mutter - aber damit hörten die Ähnlichkeiten auch schon auf. Die Einrichtung war so spärlich, dass Lena unwillkürlich das Wort spartanisch in den Sinn kam, zeugte aber dennoch von gutem Geschmack, und alles war sehr sauber und schon fast pedantisch aufgeräumt. Der einzige Missklang in diesem nahezu perfekten Arrangement waren die Kleider, die er am Mittag im Hotel getragen hatte; sie lagen jetzt unordentlich und verdreckt auf dem Boden.
    Und es roch schlecht.
    Im ersten Moment dachte sie, es wäre die Wohnung selbst, doch als Tom ihr folgte, wurde ihr klar, dass der schlechte Geruch von ihm ausging. Er war nicht gesund. Sie konnte nicht sagen, was es war - nicht die Kopfwunde, die wirklich nur ein besserer Kratzer zu sein schien -, aber irgendwie konnte sie wittern, dass mit ihm etwas nicht in Ordnung war.
    »Lena?«, murmelte er. Er starrte sie immer noch wie vor den Kopf geschlagen an, und wahrscheinlich fühlte er sich auch so. Seine Stimme klang flach. »Du weißt, dass ich dich eigentlich verhaften müsste.«

    »Ja, ich freue mich auch, dich zu sehen«, gab Lena stirnrunzelnd zurück. »Außerdem kannst du mich jetzt nicht verhaften. Du bist nicht im Dienst, wenn ich das richtig sehe. Und vielleicht bildest du dir ja auch nur ein, mich zu sehen. So was kommt nämlich vor, wenn

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