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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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hatte entdeckt, wonach sie suchte, trat an das schmale Waschbecken und wedelte auffordernd mit der Hand.
    »Komm her.«
    »Lena, du solltest jetzt wirklich …«, begann Tom, während er zu ihr ging, brach dann aber mitten im Satz ab.
    Er sprach auch nach einer Sekunde nicht weiter. Auch nicht nach fünf. Oder nach zehn. Er stand einfach nur da und starrte in den Spiegel, und Lena, die dasselbe tat, konnte sehen, wie auch noch das letzte bisschen Farbe aus seinem Gesicht wich, bis er schließlich fast genauso blass war wie sie.
    Jedenfalls vermutete Lena das, denn in dem kleinen Spiegel über dem Waschbecken war nur Toms Spiegelbild zu sehen.

    »Das ist …«, murmelte er, brach abermals mitten im Satz ab und drehte sich ganz zu ihr, um die Hand zu heben und ihre Schulter zu berühren. Lena verfolgte die Bewegung im Spiegel und sah, wie sich seine Hand auf etwas presste, das nicht da zu sein schien. »… ein verdammt guter Trick.«
    »Es ist kein Trick«, sagte Lena. »Ich wollte, es wäre so.«
    Tom starrte sie aus großen Augen an, sah dann wieder in den Spiegel und hob nun auch noch die andere Hand, um sie anzufassen. In seinen Augen erschien etwas, was schlimmer war als Angst. Sie konnte regelrecht sehen, wie seine Welt in Stücke brach. Oder es getan hätte, hätte er es zugelassen.
    »Wie machst du das?«
    Lena ließ noch einmal etliche Sekunden verstreichen, dann ergriff sie seine Hände, drückte sie langsam, aber mit einer Kraft herunter, der er nichts entgegenzusetzen hatte, und schüttelte den Kopf. »Es ist kein Trick«, sagte sie.
    »Unsinn!«, entgegnete Tom. Er starrte seine Hände an, die sie so mühelos weggeschoben hatte wie die Finger eines Säuglings, dann wieder in den leeren Spiegel vor sich und schließlich wieder sie.
    »Natürlich ist es ein Trick. Verrätst du mir, wie er funktioniert?«
    Statt zu antworten, sah Lena sich erneut aufmerksam um, fand diesmal nicht, wonach sie suchte, und verließ das Bad. Die Tür auf der anderen Seite des Flurs stand offen, so dass sie ihn nicht fragen musste, wo die Küche war. Für ihre scharfen Augen wäre es nicht nötig gewesen, aber sie schaltete das Licht für Tom ein und wartete, bis er ihr gefolgt war, ehe sie an die Küchenzeile trat und ein Messer aus dem verchromten Messerblock nahm. Tom runzelte die Stirn, sah zugleich aber auch ein bisschen angespannt aus.
    »Es ist kein Trick«, sagte sie noch einmal. »Genauso wenig wie das hier.«

    Tom sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein und versuchte sie zurückzuhalten, erstarrte aber dann mitten in der Bewegung, als sie die Messerklinge so tief über ihren Handrücken zog, dass ihr der Schmerz die Tränen in die Augen trieb. Das Blut schoss über ihr Handgelenk und ihre Finger und verschwand, bevor es zu Boden tropfen konnte, von ihrer Haut absorbiert wie von einem Schwamm. Wortlos ballte sie die Hand zur Faust und drehte sie so, dass er dabei zusehen konnte, wie die Wunde zu einem dünnen roten Strich wurde und dann vollständig verschwand.
    Tom glotzte sie an. Er versuchte etwas zu sagen, aber seine Lippen bewegten sich nur stumm. Etwas schien in ihm zu zerbrechen.
    »Aber das …«, stammelte er, und im gleichen Moment wurde die Wohnungstür hinter ihm mit einen gewaltigen Knall aus dem Schloss gesprengt, und Lummer stürmte mit einer Pistole in der Hand herein, gefolgt von einem halben Dutzend gepanzerter Polizisten.
    »Das Messer weg!«, brüllte er . »Das Messer weg und auf den Boden! Sofort!«
    Alles schien gleichzeitig zu passieren. Lenas übermenschlich schnelle Reflexe hätten es ihr zwar ermöglicht zu reagieren, aber sie war zugleich auch wie gelähmt. Vielleicht weil irgendetwas in ihr es so wollte. Es wäre so einfach, wenn es jetzt endete. Vielleicht noch ein kurzer, reißender Schmerz - und wenn sie Glück hatte, nicht einmal mehr das -, und der Albtraum war vorbei.
    Lummer schrie noch einmal und jetzt ganz eindeutig hysterisch: »Das Messer weg!«, und drückte praktisch gleichzeitig schon ab.
    Lena hätte der Kugel vielleicht sogar dann noch ausweichen können, als sie den Lauf der Waffe bereits verlassen hatte, aber sie stand einfach weiter wie gelähmt da, und es war Tom, der sich in einer schier selbstmörderischen Bewegung zwischen sie
und Lummers Schuss warf, ohne auch nur einen Sekundenbruchteil nachzudenken. Die Kugel verfehlte ihn buchstäblich um Haaresbreite, schrammte an Lenas Schulter entlang und zertrümmerte ihr Schlüsselbein, bevor sie in die Küchenzeile

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