Wir sind die Nacht
zwei Schritte zurück und legte die rechte Hand auf den Pistolenhalfter am Gürtel. Aber hinter dieser martialischen Geste verbarg sich nichts als Gewohnheit. Nur ein Reflex, der nichts darüber aussagte, was sie wirklich empfand.
Lena trat wortlos an ihr vorbei aus der Zelle, wartete gehorsam, bis sie die Tür hinter ihr zugemacht und die leere Zelle
pedantisch wieder abgeschlossen hatte, und setzte sich dann in Bewegung.
Der Gang war kaum besser beleuchtet und genauso einfach und funktional wie die Zelle. Es gab insgesamt sechs dunkelgrün lackierte Türen mit kleinen rechteckigen Gucklöchern in Augenhöhe. Hinter mindestens einer davon spürte sie ein weiteres schlagendes Herz. Aber das Leben, das es durch die Adern pumpte, war nicht gut. Sie spürte etwas Verdorbenes und wusste, dass sie es nur dann nehmen würde, wenn ihr nichts anderes mehr übrig blieb.
»Wohin bringst du mich?«, fragte sie.
Ihre Begleiterin nahm keinen Anstoß an dem vertraulichen Du, was Lena aber nicht überraschte.
»Dieser LKA-Mann will mit dir sprechen … Lummer.«
Dieser LKA-Mann. Aus Lenas Zweifel wurde beinahe Gewissheit. Das hier war eine ganz normaler Polizeiwache, kein LKA-Gebäude. Aber warum hatte man sie hierher gebracht?
»Und Tom?«, fragte sie.
»Kommissar Serner?« Die Polizistin hob nur die Schultern. Sie hielt sogar ihrem Blick stand und spielte die Ahnungslose, aber Lena spürte, dass da irgendetwas war, worüber sie nicht sprechen wollte oder konnte.
Eine schmale Treppe hinauf und durch eine weitere schwere Metalltür, gelangten sie in einen schäbigen Korridor, der in einen kleinen Raum führte, in dem es nur einen leeren Tisch und zwei Stühle gab. Auch hier gab es kein Fenster, und in einer Wand war das obligate Einwegsfenster eingelassen - das typische Verhörzimmer, wie sie es aus unzähligen Kriminalfilmen kannte.
»Warte hier«, sagte ihre Begleiterin. »Kommissar Lummer kommt gleich.« Sie wandte sich zur Tür, drehte dann noch einmal den Kopf und fragte: »Ein Glas Wasser? Oder Kaffee?«
Lena schüttelte den Kopf und tat dann etwas, von dem sie
schon wusste, dass es sehr dumm war, noch bevor sie es tat, aber sie konnte es auch nicht verhindern. Sie lächelte der Beamtin zu, und zwar auf dieselbe Art, auf die sie das Kind im Schwimmbecken angegrinst hatte: Ihre spitzen Eckzähne blitzten auf, und sie konnte selbst spüren, wie etwas in ihren Augen aufloderte; ein Versprechen auf Tod und Schlimmeres .
Die Polizistin prallte erschrocken zurück, schien etwas sagen zu wollen und schlug dann stattdessen nur die Tür mit einem Knall hinter sich zu.
Lena war mindestens genauso erschrocken wie sie.
Sie wusste nicht, warum sie das getan hatte - aber da war ein boshafter Teil in ihr, der den Ausdruck von schierer Todesangst genoss, den sie in den Augen der jungen Polizistin gelesen hatte. Was um alles in der Welt geschah mit ihr?
Kaum hatte sie sich auf einen der Stühle gesetzt, da ging die Tür auf, und Lummer - noch immer in schusssicherer Weste - kam herein. Er trug einen roten Aktendeckel unter dem linken Arm und ein winziges digitales Aufnahmegerät in der rechten Hand. Ein blaues LED darauf begann zu blinken, als er es auf den Tisch legte. Ohne sie anzusehen, zog er den freien Stuhl zurück, setzte sich und breitete seinen Aktendeckel vor sich aus. Erst dann hob er theatralisch den Kopf und sah sie mit ausdruckslosem Gesicht an.
»Fräulein Bach«, begann er.
»Lena«, verbesserte ihn Lena. Fräulein Bach … das war jemand anderes. Jemand, der sie einmal gewesen war und nie wieder sein würde.
»Lena«, sagte Lummer. »Gut. Mein Name ist Lummer … aber das wissen Sie ja, nicht wahr?«
»Wo ist Tom?«, fragte Lena. »Ich rede nur mit Tom.«
Lummer ignorierte sie. »Wir haben ein Problem, Lena«, sagte er. »Um genau zu sein, habe ich ein Problem. Aber vielleicht können Sie mir ja dabei helfen, es zu lösen.«
Lena schwieg, aber Lummer schien auch mit nichts anderem gerechnet zu haben. Er blätterte in seiner Akte, die mit eng beschriebenen Seiten und körnigen Schwarz-Weiß-Fotos gefüllt war, aber Lena hatte nicht den Eindruck, dass er wirklich darin las.
»Sie müssen natürlich nichts sagen«, fuhr er nach einer Weile fort. Es ist Ihr gutes Recht, die Aussage zu verweigern … aber das wissen Sie ja besser als ich, stimmt’s?«
Natürlich sagte sie auch dazu nichts.
»Möchten Sie einen Anwalt?«, fragte Lummer.
»Brauche ich denn einen?«
Jetzt sah er doch hoch, und wenn der
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