Wir sind die Nacht
sehr große Gebäude, die auf eine verwirrende Weise ineinandergeschachtelt und zudem mit unzähligen Türmchen und Erkern übersät waren. Alles hier war sichtlich alt, aber auch sehr gepflegt.
Ihr Ziel war ein lang gestreckter Anbau, der auf den ersten Blick wie ein zweihundert Jahre alter Pferdestall aussah. Hinter den großen Toren, die wie von Geisterhand bewegt aufschwangen, verbarg sich jedoch eine umso modernere Mischung aus Garage und Werkstatt, die Platz für mindestens ein halbes Dutzend Autos bot, abgesehen von einem betagten Kombi jedoch vollständig leer war. Der Kombi sah aus, als würde er seit mindestens zwanzig Jahren hier stehen und vor sich hin rosten. Es war auch keine Menschenseele zu sehen.
»Was ist das hier?«, fragte Lena. »Das Spukschloss im Spessart?« Sie bemühte sich um einen Scherz, aber ihre Stimme verriet deutlich mehr von ihrem Unbehagen, als ihr lieb war.
»In den Karpaten, wenn schon«, antwortete Louise, schüttelte
dann den Kopf und öffnete die Tür. Sie reckte sich ausgiebig, und obwohl die Garage von schon unangenehm hellem Neonlicht erfüllt war, hatte Lena Mühe, ihre Umrisse zu erkennen. Vielleicht stimmte ja auch mit ihren Augen etwas nicht. »Das Einzige, was hier spukt, ist der eine oder andere entlaufene Insasse, wenn sie die Türen wieder mal nicht richtig abgeschlossen haben - soweit sie noch laufen können, heißt das«, fuhr Louise fort, nachdem Lena ebenfalls ausgestiegen war. Charlotte krabbelte auf der anderen Seite aus dem Wagen und ging steifbeinig zum Kofferraum, dessen Deckel, von einer lautlosen Mechanik bewegt, nach oben schwang.
»Insassen?«, sagte Lena.
Louise antwortete nur mit einem kurzen Verziehen der Lippen und ging dann zu Charlotte, um ihr zu helfen. Irgendwie war es ihnen gelungen, die beiden riesigen Aluminiumkästen in den Kofferraum des Bentleys zu wuchten, aber sie wieder herauszubekommen erwies sich als deutlich schwieriger. Lena sah ihnen eine Weile wortlos bei ihren Bemühungen zu, ging dann zurück und holte die beiden Reisetaschen mit Louises Beute aus der Bank vom Rücksitz.
»Also, was ist das hier?«, fragte sie anschließend.
»Das, was dein kleiner Polizistenfreund ein sicheres Haus nennen würde«, antwortete Louise, machte ein betroffenes Gesicht und fügte dann in verlegenem Ton hinzu: »Entschuldige. Wir wollten ja nicht mehr über ihn reden, nicht wahr?«
Lena schwieg. Charlotte blickte ein wenig verwirrt von ihr zu Louise und dann wieder zurück, zuckte mit den Achseln und deutete mit dem Kopf auf den Metallkoffer in ihrer Hand. »Das Ding wird allmählich schwer«, sagte sie. »Und ich bin hundemüde, wenn ich ehrlich sein soll. Es war eine lange Fahrt.«
»Gleich kannst du dich ausruhen, Liebes«, antwortete Louise. »Stell den Koffer ab. Ich lasse unser Gepäck nach oben bringen.«
Charlotte reagierte nur mit einem abfälligen Schnauben, und Louise ging ohne ein weiteres Wort los.
Gleich neben dem alten Kombi gab es eine schmale Tür, hinter der sich zu Lenas Überraschung eine geräumige Liftkabine verbarg. Die Wände waren nicht verspiegelt, sondern mit dunklem Holz getäfelt, und auf der Schalttafel gab es nur zwei Knöpfe, obwohl sich Lena sicher war, dass das Gebäude deutlich mehr Stockwerke hatte.
Sie geduldete sich, bis der Lift nach oben gefahren war und sie in einen großes, mit antiken Möbeln behaglich eingerichtetes Wohnzimmer entließ. Es gab einen offenen Kamin, und das Licht, das bei ihrem Eintreten automatisch anging, war so mild, dass es ihren Augen schmeichelte. Das Glas in den Fenstern hatte einen leicht bläulichen Ton - sie musste nicht fragen, was das bedeutete -, und durch eine Anzahl offen stehender Türen konnte sie in die benachbarten, nicht minder feudal eingerichteten Zimmer sehen.
»Nett«, sagte sie. »Habe ich dir schon gesagt, dass ihr wirklich zu leben wisst?«
»So direkt eigentlich noch nicht«, antwortete Louise. »Danke für das Kompliment - aber gewöhn dich nicht zu sehr daran. Wir bleiben nur einen Tag.«
Sie stellte ihren Koffer ab, sah sich einen Augenblick lang suchend um und trat dann an eine wuchtige Truhe, unter deren mit kunstvollen Schnitzereien verziertem Deckel eine modern ausgestattete Bar zum Vorschein kam. Sie nahm drei kleine Gläser heraus und kam zurück, und Charlotte ging neben einer der Metallkisten in die Hocke und öffnete sie. Eisiger Dunst quoll aus ihrem Inneren, und Lena war nicht überrascht, zahlreiche mit einer dunkelroten Flüssigkeit
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