Wir sind die Nacht
tun. Wir haben vor über zweihundert Jahren aufgehört, männliche Vampire zu erschaffen, und das war auch schon alles, was wir tun mussten. Den Rest haben sie ganz allein erledigt. Es hat nicht einmal lange gedauert.«
»Du meinst, sie haben sich wirklich gegenseitig umgebracht?«
»Die meisten«, bestätigte Louise. »Hier und da gibt es noch einen, aber sie gehören schon lange auf die Liste der gefährdeten Arten. Und irgendwann sind vermutlich auch diese letzten Dinosaurier verschwunden, und das Thema hat sich erledigt.«
So, wie Louise es erzählte, sollten diese Worte Lena wohl beruhigen, aber das taten sie nicht. Irgendetwas daran kam ihr auf subtile Art falsch vor, aber sie konnte nicht sagen, was.
»Dann steht ihr alle untereinander in Verbindung? Die ganzen hundertfünfzig Frauen weltweit?«
»Was hast du denn gedacht?«, erwiderte Louise. »Einmal im Jahr treffen wir uns auf dem Blocksberg und fliegen in der Walpurgisnacht auf unseren Besenstielen um seinen Gipfel.«
»Aha«, sagte Lena.
»Nein, wir stehen nicht in Kontakt«, fuhr Louise fort, nun wieder völlig ernst. »Ganz im Gegenteil, im Allgemeinen gehen
wir uns eher aus dem Weg. Aber es gibt eben Dinge, die muss man nicht extra besprechen. Man weiß, dass sie richtig sind.«
»Also habt ihr euch nicht zusammengesetzt und abgestimmt oder so was?«
Nora kicherte. »Wie naiv bist du eigentlich, Kleines? Hundertfünfzig Weiber, die sich auf eine gemeinsame Entscheidung einigen sollen? Der Zickenkrieg würde bis heute dauern!«
Louise setzte zu einer sichtlich verärgerten Antwort an, wurde aber von einem leisen Harfenklang unterbrochen, der aus ihrer Handtasche drang. Sie nahm ihr Handy heraus und betrachtete stirnrunzelnd das Display.
»Ärger?«, fragte Charlotte.
Louise antwortete nicht. Sie stand auf, nahm das Handy ans Ohr und ging mit schnellen Schritten zur Tür hinaus. Lena sah ihr nach, und dabei begegnete ihr Blick dem ihrer Aufzugbekanntschaft. Er starrte sie an. Es kostete sie einige Mühe, ihren Blick von den stechenden Augen des Grauhaarigen loszureißen. Sie las schlicht und einfach Furcht darin, aber auch noch etwas anderes, was sie alarmierte.
»Ärger?«, fragte sie nun auch, an Nora gewandt.
»Ach was!«, feixte das dunkelhaarige Mädchen. »Louise hat noch einen kleinen Nebenjob, hat sie dir das nicht erzählt? Von irgendetwas müssen wir ja schließlich leben. Ruf! Mich! An!«
Bei jedem der letzten drei Wörter schlug sie so laut mit der flachen Hand auf den Tisch, dass es wie Peitschenhiebe klang.
»Wie witzig«, sagte Lena.
»Du hast gefragt«, antwortete Nora. Sie griff nun ebenfalls nach ihrer Handtasche und kramte darin herum, bis sie ein silbernes Zigarettenetui und ein dazu passendes Feuerzeug gefunden hatte. Umständlich zündete sie sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug.
»He!«, sagte jemand hinter ihnen.
Nora nahm einen weiteren Zug, verdrehte genießerisch die
Augen und blies eine graue Rauchwolke über den Tisch. »Ist zwar nicht so, als wäre ich abhängig von dem Zeug«, sagte sie, »aber es tut einfach gut.«
»So was nennt man psychologische Abhängigkeit, Küken«, sagte Charlotte sanft. »Und die funktioniert genauso gut wie körperliche, wenn nicht besser.«
»Und?«, sagte Nora. »Wen stört’s?«
»Mich!« Die Stimme kam vom Nachbartisch.
Lena drehte sich betont langsam um und sah den Grauhaarigen so kühl an, wie sie nur konnte, was sich aber als völlig zwecklos erwies. Er sah nicht sie an, sondern hatte ein vermeintlich dankbareres Opfer erspäht.
»Und ich glaube, alle anderen hier auch«, fuhr er, an Nora gewandt, fort. »Das hier ist ein öffentliches Restaurant, und in einem solchen herrscht bekanntlich Rauchverbot.«
»Echt?«, sagte Nora.
»Gesetzliches Rauchverbot«, fügte der Mann hinzu. Seine Frau legte ihm besänftigend die Hand auf den Arm, aber er schob sie einfach weg. Natürlich würde er sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, vor seinem treuen Weibchen den tapferen Ritter herauszukehren, aufrechter Streiter für Recht und Ordnung, Beschützer der Armen und größter Vollidiot im Umkreis von hundert Kilometern in einem. Und mit ein klein wenig Pech gleich ein ziemlich toter Idiot. Lena hielt den Atem an, und auch Charlotte sah plötzlich angespannter aus als zuvor.
»Echt?«, sagte Nora noch einmal.
»Bitte, machen Sie die Zigarette aus, junge Dame«, sagte er. Seine Frau, der die Situation sichtlich peinlich war, wusste plötzlich nicht mehr,
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