Wir sind die Nacht
wohin mit ihrem Blick.
»Nora«, sagte Charlotte warnend.
»Keine Sorge.« Nora ließ den Blick nicht von dem des Grauhaarigen los. »Der gute Mann hat ja total recht. Noch einen Zug, und ich mache sie aus, einverstanden?«
Sie inhalierte noch einmal so tief, dass der Rauch beim Ausatmen beinahe farblos war, hielt die Zigarette dann zwischen Daumen und Zeigefinger in die Höhe und sah sich übertrieben suchend um.
»Oh, kein Aschenbecher. Aber macht auch nichts«, sagte sie, blies auf die Zigarettenspitze, bis sie hell glühte, und drückte die Zigarette dann in ihrem linken Auge aus. Lena ächzte vor Entsetzen, während die Glut zischend erlosch und eine Mischung aus Blut und einer wasserklaren Flüssigkeit an Noras Wange herabzulaufen begann. Die ältere Frau am Nachbartisch keuchte und schlug dann die Hand vor den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken, während ihr Begleiter fassungslos dasaß. Irgendwo zerbrach klirrend ein Teller. Der Gestank, den die kochende Wunde verströmte, war übelkeiterregend.
Nora schlug die Hand vors Auge, presste die Lippen zu einem kaum noch sichtbaren Strich zusammen und sog hörbar die Luft ein.
»Ach, verdammt, wie ungeschickt«, zischte sie. »Ich bin aber auch manchmal ein richtiger kleiner Tollpatsch!«
Behutsam nahm sie die Hand herunter, blinzelte ein paarmal und sah ihren Tischnachbarn dann aus beiden Augen an. Auf ihrer Wange war ein wenig Blut und zu schwarzer Schmiere verlaufene Zigarettenasche zu sehen, aber das war auch alles. Ihre Augen waren vollkommen unversehrt. Ihr Tischnachbar schnappte wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft, und seine Begleiterin sah ganz so aus, als würde sie nur deshalb nicht ohnmächtig vom Stuhl kippen, weil sie vor Schrecken zur Salzsäule erstarrt war.
Charlotte seufzte. »Ich glaube, wir sollten jetzt lieber gehen«, sagte sie.
14
Der Club konnte gerade erst aufgemacht haben. Der große Parkplatz, über den Charlotte den Wagen in einem halsbrecherischem Tempo gejagt hatte, wie Lena es nicht einmal Nora zugetraut hätte, war noch nicht einmal zur Hälfte besetzt. Trotzdem herrschte auf der Tanzfläche schon wieder Gedränge, und die aufpeitschende Techno-Musik kam ihr noch lauter und enervierender vor, als sie sie in Erinnerung hatte.
Nora hätte vermutlich noch ein paar deutlich unangenehmere Dinge getan, hätte Charlotte sie nicht aus dem Lokal gezerrt und auf die Rückbank des Jaguars geschubst, wo Louise schon auf sie wartete. Danach waren sie in Windeseile unter Missachtung sämtlicher Verkehrsregeln hierher gerast.
»Was gibt es für einen Grund, schon wieder Trübsal zu blasen?«
Zum Beispiel dich, dachte Lena, als sie Noras Stimme auch über die peitschende Techno-Musik hinweg deutlich erkannte. Mehr noch: Sie spürte nicht nur, dass jemand nahe an sie herangetreten war, sondern auch, wer es war. Konnte es sein, dachte sie beunruhigt, dass sie sie an ihrem Geruch erkannt hatte?
Ebenso deutlich, wie sie spürte, dass jemand hinter ihr stand, spürte sie auch, dass Nora sie nicht in Ruhe lassen würde. Sie drehte sich widerwillig zu ihr um und war im ersten Moment verwirrt, weil sie zu ihr hochsehen musste. Dabei war
Nora allerhöchstens so groß wie sie. Erst dann wurde ihr klar, dass Nora nicht hinter ihr stand, sondern mit angezogenen Knien auf der Bar saß, eine brennende Zigarette in der linken und ein halb gefülltes Whiskyglas in der rechten Hand. Sie selbst hielt gerade ihr viertes oder fünftes Glas in der Hand.
»Nun?«, sagte Nora.
Lena hob die Schultern. »Tu ich nicht.«
»Und warum versuchst du dann, dich zu betrinken?«
»Tu ich auch nicht«, behauptete Lena, erntete einen spöttischen Blick und verbesserte sich: »Also gut, ich versuche es.«
»Aber es funktioniert nicht.«
»Nein.«
»Weil du es nicht zulässt.«
»Blödsinn«, sagte Lena. »Das hier ist mein fünfter. Dabei mag ich das Zeug nicht einmal.«
»Warum versuchst du dann seit einer Stunde, dich abzuschießen?«, fragte Nora und nahm einen gewaltigen Schluck aus ihrem Glas. Bei ihr schien der Alkohol durchaus zu wirken. Ihre Stimme klang ein bisschen schleppend, und Lena fiel jetzt auch auf, dass ihre Augen trüb waren.
»Wie machst du das?«, fragte sie.
»Was?«
Lena deutete auf ihr leeres Glas, dann auf das in Noras Hand und schließlich auf die brennende Zigarette. Der Rauch roch süßlich. »Dass das Zeug bei dir wirkt.«
»Das tut es bei jedem«, antwortete Nora. »Du musst es nur zulassen, das ist alles. Ich verrate
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