Wir sind die Nacht
Ordnung?«, fragte Lummer.
»Sicher«, antwortete Tom. Lena entfernte sich von ihm und seinem Kollegen so weit, wie es in dem winzigen Zimmer möglich war. »Lena ist nur ein bisschen von der Rolle … Das wäre ich auch, wenn ich nach Hause käme und es würde so aussehen.«
Lummer sah sich um. »Als ich dich in deiner Junggesellenbude besucht habe, da hat es da so ausgesehen.«
Tom rollte die Augen. »Ha, ha, sehr komisch.« Er zog eine doppelseitig bedruckte Visitenkarte aus der Tasche. »Wenn dir noch was einfällt, dann ruf mich an, okay? Und wenn nicht, schaue ich in ein, zwei Tagen noch einmal vorbei.«
Was für eine wunderbare Idee. So bekam sie immerhin eine zweite Chance, ihm das Blut auszusaugen, falls sie sich heute noch beherrschen konnte. Aus ihrem Hunger war längst eine pure Qual geworden, die sie kaum noch ertrug.
Tom hielt ihr die Karte hin, aber sie wagte es nicht, danach zu greifen. Die Gefahr, ihn dabei versehentlich zu berühren, war einfach zu groß. Sie wusste nicht, was dann geschehen würde.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte er.
Lena nickte. Sie wollte weiter vor ihm zurückweichen, aber hinter ihr war nur noch das offene Fenster und dahinter die aufgehende Sonne.
»Wirklich?«
»Ja.« Geh! Geh doch endlich!
Tom sah irgendwie hilflos aus, wie er so mit der Visitenkarte in der Hand dastand. Schließlich rettete er sich in ein fahriges Schulterzucken. »Dann … lege ich sie einfach draußen auf den Tisch.«
Lena reagierte jetzt gar nicht mehr, sondern starrte nur an ihm vorbei ins Leere, bis er sich endlich umdrehte und die Tür hinter sich zuzog.
Lena prallte vom Fenster zurück wie vor einer glühenden Herdplatte, presste sich mit dem Rücken an die gegenüberliegende Wand und starrte das graue Rechteck an. Ihr Herz raste, und aus dem Hunger in ihren Eingeweiden war längst ein grausamer Schmerz geworden. Sie konnte Toms Stimme und die seines Kollegen durch die dünnen Wände hindurch hören; und sie wusste, dass niemand dort draußen eine Chance gegen sie hätte, wenn sie jetzt hinausstürmte und sich nahm, was ihr zustand.
Danach würde das Licht sie umbringen. Aber vielleicht war das egal, wenn sie vorher wenigstens diesen grausamen Hunger stillen konnte. Was hatte Louise gesagt? Du kannst noch zurück, es wird schwer, aber noch kannst du zurück? Lächerlich! Diesem grausamen Hunger auch nur noch eine Sekunde standhalten zu wollen war absurd.
Draußen fiel die Wohnungstür ins Schloss, und einen Moment später kam Holden herein.
»Waren das Freunde von dir?«, sagte er. »Lenalein, du überraschst mich immer wieder. Erst verwandelst du dich von Aschenputtel in die Schneekönigin, und dann stellt sich raus, dass du Freunde ganz oben bei der Polizei hast. Allmählich sollte ich mich wirklich fragen, ob ich böse auf dich werden soll. Weißt du denn nicht, dass du keine Geheimnisse vor mir haben sollst? Immerhin bin ich dein Bewährungshelfer.«
Allmählich sollte er sich eher fragen, ob er in einer Minute noch am Leben war, dachte Lena. Auch in seinen Adern floss Blut. Es roch nicht annähernd so gut wie das von Tom, aber es war Blut, und Blut bedeutete Leben .
»Nur mit der Ordnung hast du’s nicht so, wie?«, fuhr er mit einem schmierigen Grinsen fort. »Wenn ich mich hier so umsehe, dann …«
Weiter kam er nicht. Lena war mit einem einzigen Satz bei ihm, riss ihn an den Aufschlägen seiner Biker-Jacke herum und war kurz davor, ihm die Zähne in die Halsschlagader zu schlagen. Stattdessen stieß sie ihn mit solcher Gewalt gegen die Tür, dass sie aus den Angeln gerissen wurde. Dann sprang sie mit einem Satz über ihn hinweg und floh aus der Wohnung.
Der Keller war winzig und verdreckt, und es stank hier nach Urin, nach Marihuana und Schweiß. Und Ratten.
Sie versuchte, eine davon zu fangen, um wenigstens den schlimmsten Hunger zu stillen, aber die Biester waren nicht nur schnell, sondern auch schlau. Der Keller hatte ein Fenster, das nach Osten führte. Kurz nachdem sie hier heruntergekommen war, war ein verzehrendes gelbes Licht darin aufgetaucht, das nun tödliche Laserstrahlen in den Raum feuerte und ihn auf diese Weise in zwei ungleiche Hälften schnitt, in dessen kleinerer - selbstverständlich der ohne Ausgang - sie nun gefangen war.
Die Ratte saß auf der anderen Seite und starrte sie an. Lena
war sich hundertprozentig sicher, dass sie sich das spöttische Funkeln in ihren Augen nicht nur einbildete. Sie wusste nicht, ob Ratten wirklich
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