Wir sind die Nacht
überdurchschnittlich intelligent waren, aber zumindest dieses spezielle Exemplar war richtig boshaft. Das kleine Mistvieh dachte nicht daran, zu verschwinden, sondern hockte einfach nur da, reckte manchmal die Schnauze mit den zitternden Schnurrhaaren in Lenas Richtung und starrte sie gehässig an; beinahe als wüsste es, wie sicher es hinter den schräg einfallenden Lichtstrahlen war.
Noch vor drei Tagen hätte sie jeden schallend ausgelacht, der ihr erzählt hätte, dass es so etwas wie Vampire gab. Jetzt war sie selbst einer. Vielleicht wussten die Ratten ja davon oder sogar alle Tiere, und die Menschen waren die Einzigen auf der Welt, die keine Ahnung davon hatten, dass sie keineswegs die Krone der Schöpfung waren, sondern nichts anderes als Beute. Nahrung für die wirklichen Herren dieser Welt.
Wahrscheinlich war es der Hunger, der ihre Gedanken verwirrte. Unendlich behutsam streckte sie die Hand aus, tauchte die Fingerspitzen in das gleißende Licht und wimmerte sofort vor Schmerz auf. Ihre Haut warf Blasen und wurde schwarz. Winzige weiße Funken stoben auf und strebten dem Licht entgegen, und in all den Gestank mischte sich nun auch noch der Geruch von verbranntem Fleisch.
Lena kroch wimmernd ein kleines Stück von der flimmernden Wand aus tödlichem Licht weg und starrte durch einen Schleier aus Tränen auf ihre Hand hinab. Rauch stieg von ihren verbrannten Fingern auf. Dabei hatte das Licht ihre Haut nicht einmal für eine Sekunde berührt.
Die Ratte tänzelte ein paar winzige Schritte zur Seite. Irgendetwas klapperte, und Lena glaubte ein Scharren zu hören. Schritte. Sie begann hysterisch zu werden, und ihre Gedanken verwirrten sich immer rascher. Sie hatte keine Wahl.
Ihre Hand schoss vor und packte die Ratte. Lena brach ihr
mit der Gewalt einer zuschnappenden Bärenfalle ein halbes Dutzend Rippen. Die Ratte piepste schrill vor Todesangst und Qual, und dann konnte auch Lena einen keuchenden Schrei nicht mehr unterdrücken.
Es war, als hätte sie in Säure gegriffen. Flammen schlugen aus ihren Fingern, der Hand und dem Unterarm, und ihre Haut glühte in einem bösartigen hellen Orange auf. Millionen winziger weißer Funken explodierten aus ihrem Arm und strebten dem Fenster entgegen, und plötzlich war alles voll schwarzem Qualm.
Keuchend warf sie sich zurück, presste den lodernden Arm gegen ihren Leib und wälzte sich über den Boden, um die Flammen zu ersticken. Es stank nach verbranntem Stoff und schmorendem Fleisch, und die Ratte zappelte immer noch in ihren verkohlten Fingern. Überall waren Schatten, rauchig gestaltlose Dinge, die aus Richtungen auf sie einstürmten, die es gar nicht gab, und mit glühenden Krallen an ihrer Seele rissen. Der Hunger würde sie töten. Jetzt.
Das Scharren und Klappern kam näher, aber es war bedeutungslos. Sie war so unvorstellbar hungrig!
Wimmernd stemmte sie sich auf die Knie, kroch rücklings von dem verzehrenden Licht weg, die zappelnde Ratte noch immer an sich gepresst. Ihr Kleid schwelte an mehreren Stellen, und jetzt stank es auch nach verbranntem Haar. Mit der freien Hand schlug sie die Funken aus, die sich darin eingenistet hatten, presste sich mit dem Rücken gegen die Wand und biss der Ratte mit einer einzigen Bewegung den Kopf ab.
Das Blut schmeckte unbeschreiblich ekelhaft, muffig und … faul, nach all den toten und verwesenden Dingen, die die Ratte in ihrem Leben gefressen hatte. Übelkeit explodierte wie ein Faustschlag in Lenas Bauch, und die Dunkelheit wurde noch intensiver, so als begänne die Welt rings um sie herum zu erlöschen. Aber unter all diesem Widerlichen, unter all diesem Wissen des schrecklich Falschen, dem grausigen Gefühl von
Fell und Fleisch und Knochensplittern zwischen ihren mahlenden Zähnen bedeutete dieses Blut auch Leben. Das Reißen und Wühlen in ihren Eingeweiden verlor mit jedem der widerlich warmen, klebrigen Tropfen, die ihre Kehle hinabrannen, an Intensität. Sie bekam das, was sie brauchte,auf eine unbeschreiblich grässliche Art, aber sie bekam es. Sie war immer noch hungrig, ihr war übel, und ein heftiges Gefühl der Scham peinigte sie, aber sie riss und schlang weiter, saugte jeden noch so winzigen Tropfen Blut aus dem verendeten Tier, und die Schmerzen und das mörderische Reißen und Wühlen in ihren Eingeweiden hörten ganz allmählich auf.
Und irgendwann, nach Minuten, die zu hundert Ewigkeiten in der Hölle geworden waren, lösten sich auch die blutigen Schleier vor ihren Augen auf, und sie sah in
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