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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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ein stoppelbärtiges Gesicht hoch, auf dem ein Ausdruck absoluten Entsetzens geschrieben stand. Etwas sagte ihr, dass sie dieses Gesicht kennen sollte - und vielleicht gut beraten war, es zu fürchten -, aber der Gedanke entschlüpfte ihr, noch ehe sie ihn richtig ergreifen konnte. Es war so, wie Louise gesagt hatte: Das Blut dieses Tieres hielt sie am Leben, aber mehr auch nicht. Der Hunger war gestillt, aber nicht diese schreckliche Gier.
    »Oh, verdammt, Lenalein, jetzt hast du mir aber einen Schrecken eingejagt.«
    Holdens Knie knackten wie kleine zerbrechende Äste, als er vor ihr in die Hocke ging. War da so etwas wie ein Funken von Mitleid in seinen Augen?
    »Wir beide müssen uns wirklich einmal in Ruhe unterhalten, Lenalein«, fuhr Holden fort. Er streckte die Hand aus, wie um ihr den Kadaver der Ratte abzunehmen, den sie noch immer in den Händen festkrallte, führte die Bewegung dann aber nicht zu Ende, sondern verzog nur angeekelt das Gesicht.
    »Du solltest dich mal selbst sehen, Lenalein. Was für ein Scheißzeug hast du da nur genommen?«

    Die Ratte entglitt ihren plötzlich kraftlos werdenden Fingern, rollte über den Boden und blieb unmittelbar vor Holdens Füßen liegen.
    »Willst nicht darüber sprechen, wie?«, sagte Holden, nachdem er die tote Ratte mit fast wissenschaftlichem Interesse betrachtet hatte. »Kann ich verstehen, ehrlich. So wie du drauf bist … Haben dir deine neuen russischen Freunde das Zeug gegeben? Das scheint ja ganz schön reinzuziehen.«
    Da war etwas in Holden, etwas, das sie lockte. Es war widerlich und verabscheuungswürdig, aber es war da, und es rief sie.
    »Was hältst du davon, wenn wir jetzt zu mir gehen und du dich wäschst und erst mal wieder zu dir kommst?«, fuhr er fort. »So kannst du deiner Mutter jedenfalls nicht unter die Augen treten. Die arme Frau trifft ja der Schlag! Und wenn du dich ein bisschen erholt hast, dann unterhalten wir uns über deine Russenfreunde. Und über das Zeug, das die so in Umlauf bringen.«
    Sie spürte seine Wärme, das Leben, das unter seiner schmierigen Fassade pulsierte und das sie rief. Das sie brauchte .
    »Dir ist schon klar, dass ich das eigentlich melden müsste?«, fragte Holden. »Aber dann wäre deine Bewährung futsch, und du müsstest für anderthalb Jahre in den Knast. Vielleicht länger, wer weiß?«
    Lena konnte seine Halsschlagader jetzt sehen, wie einen dicken grünblauen Wurm, der sich dicht unter seiner Haut wand.
    »Davon hätte im Grunde keiner was, denke ich. Deine Zukunft wäre endgültig versaut, ich hätte jede Menge Schreibkram, und der Steuerzahler müsste anderthalb Jahre lang für nichts bezahlen. Wäre doch völliger Quatsch, oder?« Er legte den Kopf schräg. »Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du ein wirklich hübsches Mädchen bist?«
    Als er nun die Hand nach ihr ausstreckte, packte Lena ihn
und schleuderte ihn auf die andere Seite des Raums, wo er in einem Hagel aus zerbrechendem Holz und umherfliegendem Müll zu Boden ging.
    »Verdammtes Miststück!«, brüllte er. »Dafür mach ich dich fertig, du …«
    Eine Gestalt erschien über ihm, kaum mehr als ein Schatten, klein und rauchig, riss ihn mit einer mühelosen Bewegung in die Höhe und warf ihn dann mit solcher Gewalt gegen die Wand, dass er bewusstlos zusammensackte. Alles drehte sich um Lena herum, und der Hunger erwachte bereits wieder. Das wenige Blut der Ratte war aufgebraucht. Sie benötigte mehr, und da war mehr, ein Quell unerschöpflicher Kraft, direkt hinter der Barriere aus tödlichem Licht.
    »Bleib ganz ruhig sitzen.« Der Schatten trat mit wenigen schnellen Schritten durch die tödliche Barriere. Etwas zischte und roch verbrannt, orangerote Funken stoben in einem vergänglichen Wirbel auf, und ein Teil von Noras Gesicht und Haar war wie zu schwarzer Schlacke verkohlt.
    »Was …?«, murmelte Lena schwach.
    »Nicht jetzt.« Nora rollte den Ärmel hoch und streckte ihr das Handgelenk entgegen. »Hier. Trink!«
    Lena zögerte kurz, aber dann zerbrach ihr Widerstand wie dünnes Glas unter einem Hammerschlag, und sie packte Noras Arm mit beiden Händen, schlug die Zähne in ihr Handgelenk und trank mit gierigen Schlucken.
    Es war so berauschend, wie das Blut der Ratte widerwärtig gewesen war, ein unbeschreiblicher Kick, hundertmal energiegeladener als die Blutkonserven, die Louise ihr gegeben hatte. Eine unbeschreibliche Kraft durchströmte sie, ließ sie sich wie unter einem elektrischen Schlag winden und vor Qual und Lust

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