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Wir sind doch Schwestern

Wir sind doch Schwestern

Titel: Wir sind doch Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Gesthuysen
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Er schlich in die Schreibstube und klaute die Lagepläne. Niemand wusste genau, wie er es angestellt hatte, aber die Pläne gelangten irgendwie in die Hände der Alliierten. Und die deutschen Soldaten wunderten sich, dass, wann immer sie am unteren Niederrhein Raketen aufstellten, diese Stellungen postwendend von den Alliierten zerbombt wurden.
    Sobald in Veen die Bomben fielen, hatte Wolodomir das Weite gesucht, und als der letzte Pulverrauch verweht war, zogen die Engländer in das kleine Dörfchen ein. Mitten unter ihnen: Wolodomir Huth. Der führte sich nun auf dem Bauernhof auf wie der neue Herr. Er kam und ging nach Lust und Laune, schlief im Wohnzimmer, befahl dem Bauern, ein Schwein zu schlachten, ließ sich bedienen und blickte anzüglich auf die älteste Tochter der Familie. Käthe war fünfzehn Jahre alt, eine hübsche, halb erwachsene junge Frau. Und eines Abend passierte es.
    Wolodomir Huth und seine Spießgesellen hatten getrunken. Sie waren zu sechst, fielen bei Einbruch der Dunkelheit über den Bauernhof her und zertrümmerten sowohl die Küche als auch die Wohnzimmereinrichtung.

    Käthes Vater ahnte sofort, wie dieser Abend enden würde. Er trieb seine Familie samt Knechten und Mägden ins elterliche Schlafzimmer und verschanzte sich dort. Irgendwann kamen die Männer die Treppe herauf und rüttelten an der Schlafzimmertür. Käthes Vater stellte sich breitbeinig und mit ausgebreiteten Armen vor die Tür, als könnte er so Schutz bieten, dann fiel ein Schuss. Der Vater schrie auf, fiel der Länge nach um, die Tür knallte aus den Angeln und sechs betrunkene und bewaffnete Männer standen im Raum. Wolodomir schaute auf die Kinder, die sich auf dem Bett zusammengekauert hatten.
    »Käthe«, sagte er knapp, »du kommst mit uns.«
    Vier Männer nahmen das Mädchen mit in die Scheune, zwei bewachten die Bauernfamilie. Sie standen dort, ohnmächtig und hilflos, mussten mitansehen, wie Käthe verschleppt wurde, und niemand zweifelte daran, was in der Scheune passieren würde.
    »Und weißt du, was für Käthe das Schlimmste war?«, fragte Gertrud, ohne eine Antwort zu erwarten. Paula schüttelte den Kopf.
    »Alle in der Familie, alle im Dorf, wussten Bescheid. Aber es hat nie jemand mit ihr darüber geredet.«
    »Das Schweigen des Niederrheins«, entfuhr es Paula, die während Gertruds Erzählung zunehmend in sich zusammengefallen war. »Das ist ja furchtbar. Das arme Mädchen! Und du hast in Duisburg nichts von seiner Boshaftigkeit geahnt?«
    »Natürlich nicht. Denkst du, ich hätte ihn sonst versteckt? Ich habe wirklich geglaubt, ich tue ein gutes Werk. Und als Jan mich vorhin darauf brachte, habe ich mich wieder furchtbar geschämt, weil ich den hässlichen Teil der Wahrheit immer verschwiegen habe.«
    »Ich bin froh, dass du mir die ganze Wahrheit gesagt hast, Gertrud. Ich habe dir auch noch etwas zu sagen, ich finde, esist an der Zeit, in vielerlei Hinsicht reinen Tisch zu machen. Aber nicht mehr heute, ich bin zu müde.« Paula rutschte vom Sessel herunter und kam etwas ungelenk zum Stehen. Gertrud beobachtete sie, wie sie nach ihrem Stock angelte. Als sie ihn gefunden hatte, rief sie: »Gute Nacht!«, und ging für eine beinahe Blinde erstaunlich schnell durch den Flur zur Treppe.
    Gertrud atmete tief ein und aus. Sie fühlte sich besser, stellte sie fest. Es war gut, dass sie es einmal ausgesprochen hatte. Von nun an würde sie nie mehr über Wolodomir Huth reden, gelobte sie sich in diesem Moment fast ein wenig feierlich und beschloss, ebenfalls schlafen zu gehen.

Der 100. Geburtstag – Freitag
Über das Leben
    »Warum haben Sie eigentlich nie geheiratet?« Der junge Mann hatte seinen Stift erwartungsvoll im Anschlag. Gertrud sah ihn an und ignorierte sein freundliches Lächeln. Das Interview war aufregend. Sie hatte lange nicht mehr so vieles aus ihrem Leben preisgegeben, schon gar nicht vor einem Fremden. Sollte sie nun wirklich auch noch mit ihm über Franz sprechen? Dieser Wollentarski war ihr wider Erwarten sympathisch, und nach anfänglichen Schwierigkeiten hatte sich das Gespräch viel intensiver entwickelt, als sie erwartet hatte.
    Gertrud war eine eifrige Zeitungsleserin. Trotz ihres hohen Alters mühte sie sich durch die klein gedruckten Zeilen. Und wenn sie gar nicht mehr weiterkam, weil ihre Augen müde wurden, ließ sie José oder Katty vorlesen, je nachdem, wer gerade verfügbar war. Mit José allerdings machte es mehr Spaß. Ihre Schwägerin hatte die Angewohnheit, die

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