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Wir sind doch Schwestern

Wir sind doch Schwestern

Titel: Wir sind doch Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Gesthuysen
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ertragen. Der arme Herr Wollentarski hat gleich gar keine Stimme mehr. Hast du ihm denn wenigstens schon etwas zu trinken angeboten?«
    »Ich habe den jungen Mann sehr gut verstanden«, gab Gertrud zurück und betonte dabei bewusst jede einzelne Silbe. Es war schon alles peinlich genug, jetzt musste Katty sie nicht auch noch mit ihrer Hörgerätsgeschichte demütigen. Und dieses patente Auftreten ihrer kleinen Schwester ging ihr gerade besonders gegen den Strich. Katty führte sich auf, als wäre sie ihre Betreuerin im Altenheim.
    »Also, junger Mann, was wollen Sie trinken? Ein Schnäpschen vielleicht, damit Ihre Stimme geschmeidig bleibt?«, schlug sie gerade vergnügt vor. Gertrud wollte darüber nicht lachen, sie konnte es nicht ausstehen, wenn Katty Scherze auf ihre Kosten machte. Wollentarski wollte abwehren, aber noch während er sich räusperte, klopfte ihm Katty auf die Schulter. »Es ist Zeit fürs Elf-Ührken. Und du, Gertrud, erzählst jetzt mal schön. Du kannst doch gut was von Empel erzählen, von Mutter und Vater. Sei freundlich! Der Herr Wollentarski ist extra hierhergekommen.« Damit verließ sie den Raum.
    Gertrud und Wollentarski schauten verlegen auf die Tischplatte. Gertrud überlegte einen Moment, wie man die Situation retten könnte.
    »Meine Schwester hat ganz recht. Ich höre wirklich nicht besonders gut, vor allem, wenn es viele verschiedene Geräuschquellen gibt. Aber hier sind wir zwei ja unter uns, da können Sie ganz normal mit mir sprechen. Fragen Sie mich doch ruhig noch mal etwas.«
    »Na ja«, begann Wollentarski etwas zögerlich, »vielleichtbeginnen Sie tatsächlich damit, mir zu erzählen, wie Sie aufgewachsen sind. Wer waren Ihre Eltern, wie haben Sie gelebt?«
    Gertrud schämte sich für ihre Bockigkeit. Der Mann war wirklich nett und anscheinend wollte er gar keinen einfältigen Kram hören. Das ganze Gewäsch, das José ihr so gerne vorlas, schien ihn nicht zu interessieren. Also beschloss sie, sich Mühe zu geben. Und sie war eine gute Erzählerin.
    Sie beschrieb den Hof in Empel, ihren Vater, ihre Mutter. Sie schilderte, wie sie mit elf Kindern dort gelebt hatten. Dass es nicht genügend Stühle gegeben hatte und sie deshalb alte Baumstämme bearbeitet und darauf gesessen hatten. Am wöchentlichen Badetag war immer eine alte Wanne aus Zink aufgestellt worden, in der mindestens zwei Kinder gleichzeitig baden mussten. Sie erzählte, dass ihre Mutter sie zu Gottvertrauen und ihr Vater sie zu Selbstvertrauen erzogen habe, und von einer ziemlich glücklichen Kindheit.
    Und, vielleicht, weil sie es so gewohnt war, vielleicht, weil sie dieses Interview wider Erwarten sehr aufwühlte, sprach sie, anders, als sie es sich am Vorabend gelobt hatte, doch wieder von Wolodomir Huth, und zwar, wie üblich, nur vom ersten Teil der Geschichte.
    »Was ist aus Wolodomir geworden?«, fragte Wollentarski, und Gertrud musste an das Gespräch mit Paula denken.
    »Er ist früh gestorben«, antwortete sie schließlich. »Irgendwann Ende der Fünfzigerjahre bekamen wir einen Brief aus Kiew, von seinem Sohn. Wir konnten ihn kaum verstehen, er war in sehr gebrochenem Deutsch verfasst, und darin wurde uns mitgeteilt, dass Wolodomir verstorben sei. Herzstillstand. Man habe meinen Namen in seinen Unterlagen gefunden, mit der Bitte um Nachricht im Todesfall. Das sei nunmehr erledigt, mit freundlichem Gruß und so weiter. Wir haben nie nachgeforscht, was wirklich passiert ist, aber geglaubt haben wir dieGeschichte nicht. Wolodomir war nicht der Mensch für einen Herzinfarkt, meine ich, aber vielleicht sind das auch nur die Spinnereien einer alten Frau. Für mich war er immer ›Der Geheimagent‹, und so einer stirbt nicht an einem Herzinfarkt, sondern wird von einer feindlichen Macht vergiftet oder wenigstens im Kerker gefoltert.«
    Vielleicht hat er auch einfach nur die gerechte Strafe für seine Verbrechen bekommen, hatte Gertrud für sich befunden. Und nach alldem war Wollentarski zu einem wunden Punkt in ihrem Leben gekommen.
    »Wie war das mit Männern in Ihrem Leben? Sie waren, soweit ich weiß, niemals verheiratet. Warum?«, wiederholte der junge Journalist gerade geduldig seine Frage.
    »Es gab da einen Mann«, begann Gertrud zaghaft die Geschichte ihrer Liebe, »er war charmant. Franz war sein Name, ein besonderer Mensch.« Sie erzählte von Franz’ Technikleidenschaft, von ihren theoretischen Fahrversuchen in der Küche und dem echten Automobil. »Ein eleganter Zweisitzer. Wir brauchten von

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