Wir sind doch Schwestern
regelmäßige Mahlzeiten oder ausreichend warme Kleidung. Wolodomir musste auch im Winter mit nackten Füßen in die gefrorenen Wiesen, um morgens um fünf die Kühe zu melken. Es war früh, es war kalt, und es war seine Rettung. Denn so konnte er wenigstens die körperwarme Milch zu sich nehmen. Viele Zwangsarbeiter waren bereits vor Hunger gestorben.
Auf dem Nachbarhof arbeitete Olga, eine stämmige Slawin aus Kiew. Mit der Landwirtschaft kannte sie sich zwar nicht aus, aber sie war eine gelehrige Sprachschülerin, und so hatte sie es geschafft, genügend Brocken Deutsch zu lernen, um das Herz der Bauersfrau Finnie zu erobern. Finnie hatte einen Narren an ihr gefressen, ernährte sie ordentlich und ließ sie die Wäsche machen. Olga war kokett und lebenslustig, und es dauerte nicht lang, bis sie dem Werben Wolodomirs nachgab, schwanger wurde und damit zu einem Problem für Finnie. Schwangere Zwangsarbeiterinnen mussten abtreiben; taten sie das nicht, wurden ihnen die Kinder weggenommen und in eine sogenannte »Pflegestation« gebracht, wo sie dem Tod geweiht waren. Finnie warnte Olga vor den Folgen, sie hatte wohl auch selbst Angst vor der Gestapo, denn als Bäuerin war sie für die Ostarbeiter verantwortlich.
Aber ihre Olga anzuzeigen, brachte sie nicht übers Herz. Also empfahl sie ihr, zu fliehen und sich nach Süden zu Gertrud durchzuschlagen. Die beiden kannten sich aus der Schule und waren enge Freundinnen. Finnie schrieb für Gertrud ein paar Zeilen, stopfte sie Olga in den BH , schickte sie in den Stall und ließ die Tür unverschlossen. Als Olga am nächsten Morgen verabredungsgemäß nicht mehr da war, schrie Finnie laut, schimpfte und freute sich insgeheim, dass nichts passiert war.
Zunächst kam die schwangere Olga allein zu Gertrud, doch einige Monate später tauchte auch Wolodomir auf. Niemand wusste, wie er sie gefunden hatte, aber Gertrud hatte nun bald eine Kleinfamilie, die heimlich in ihrer Schule lebte.
Sie war zu jener Zeit Direktorin einer Mädchenberufsschule in Duisburg. Natürlich wurde Hauswirtschaft gelehrt, es wurde gekocht und täglich blieben Reste übrig. Dass Gertrud etwas mehr an Nahrungsmitteln bestellte, als die Mädchen eigentlich gebraucht hätten, fiel niemandem auf, und keiner ahnte, dass es in der Schule Mitbewohner gab. Tagsüber versteckten sich die beiden und mussten vor allem das Baby ruhig halten, nachts machten sie, was sie wollten. Wolodomir war oft weg, manchmal wochenlang. Er war nicht der Typ, der sich auf Dauer versteckte.
Gertrud wusste bis heute nicht, ob er ein Aufschneider gewesen war oder ihr die Wahrheit erzählt hatte. Wolodomir behauptete damals steif und fest, er habe die Deutschen durch Sabotage in den Untergang getrieben. Er habe die V2-Raketen zerstört, die auf London gerichtet waren, sagte er in seinem gebrochenen Deutsch, das klang ein bisschen wie »Ich. kaputt. V2. Groß Waffe. Tot. England.« Gertrud hielt es eigentlich nicht für möglich, aber es war immer wieder von Verrat die Rede gewesen. Goebbels hatte die »Vergeltungswaffe 2« vollmundig angekündigt, und jeder hatte sich gewundert, warum das »Gerät«, wie es im Volksmund hieß, nicht flog oder besser: nicht traf. Dass ausgerechnet ihr Wolodomir dahinterstecken sollte, machte Gertrud skeptisch, zumal die Raketen angeblich irgendwo bei Den Haag abgeschossen worden waren – und das war immerhin mehr als zweihundert Kilometer entfernt. Andererseits hatten die Xantener immer wieder behauptet, in der Hees und auch im Birtener Amphitheater wären V2 versteckt gewesen.
Was auch immer die Leistung von Wolodomir gewesen war, er selbst hatte ausgesprochen zufrieden mit sich gewirkt. Und so hatte Gertrud sich gerne vorgestellt, ihr Ukrainer Wolodomir wäre »Der Geheimagent«. Das Buch von Joseph Conrad hatte sie als junge Frau geliebt. Später hatte sie James-Bond-Filme gesehen und war hingerissen gewesen. Bis heute redete sie sich ein, sie habe einen echten Spion beherbergt, der geholfen hatte, die Nazis zu schlagen.
Jedes Mal, wenn sie Jan die Geschichte erzählte und zum Ende kam, lief das gleiche Zeremoniell ab: Er hörte geduldig bis zum Schluss zu, sie fragte ihn danach aus, ob er irgendetwas von der V2 in Holland gewusst habe, von dem geheimen Wirken eines Spions in seinem Heimatland, den Niederlanden, aber Jan zog immer nur die Lippen zur Seite, entblößte ein paar faule Zähne und schwieg.
Jan war inzwischen vor Gertrud in die Knie gegangen und streichelte Tommy mit einer Hand,
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