Wir sind doch Schwestern
Empel bis Wardt mindestens eine Stunde, und es sind nicht einmal zwanzig Kilometer von hier bis dort. Ich kann mich noch genau erinnern, es war ein wundervolles Gefühl, so zu fahren, und Franz wusste alles über Autos. Man hatte den Eindruck, er hätte sie höchstpersönlich erfunden.« Gertrud sprach und liebte mit jedem Wort den Mann, den sie hatte heiraten wollen. Achtzig Jahre war es her. Wie lange hatte sie nicht mehr so ausführlich von Franz gesprochen? Sie fühlte sich so lebendig wie lange nicht mehr, und es machte ihr Freude, zu erzählen und zu schwärmen. Sie beschrieb die kurze zaghafte Verliebtheit zwischen zwei jungen Menschen im Ersten Weltkrieg. Und just als Wollentarski sie fragte, warum es denn niemals zur Hochzeit gekommen war, bog Katty ein weiteres Mal um die Ecke und stellte ein Tablett mit einer FlascheHolunderschnaps und drei Gläschen auf den Tisch. Dazu hatte sie ein paar Brote geschmiert.
»Greifen Sie zu, junger Mann. Worüber redet ihr gerade?«
»Oh, vielen Dank«, wehrte Wollentarski das Angebot ab, »aber ich glaube, um die Uhrzeit …«
»Na, kommen Sie, hundert Jahre sind lang, und Sie werden hier noch eine Weile durchhalten müssen, da werden Sie doch wohl eine kleine Stärkung vertragen.« Katty hielt ihm das Glas energisch hin, gab Gertrud mit der anderen Hand ein halb gefülltes und nahm sich ebenfalls das wohlverdiente Elf-Ührken.
»Auf euer Wohl, Prost!«
»Wir sprachen gerade über die erste große Liebe ihrer Schwester, Frau Franken«, sagte Wollentarski, »was ist daraus geworden?«
Gertrud spürte, wie Katty erstarrte. Sie lachte. Aber diesmal sollte es nicht charmant klingen.
»Nichts«, sagte Gertrud schließlich und sah dabei nicht den Journalisten an, sondern fixierte ihre kleine Schwester. »Man hat ihn mir weggenommen.«
»Lass doch die ollen Kamellen«, ging Katty auch schon dazwischen, ehe Gertrud überhaupt entschieden hatte, wie viel sie dem Journalisten anvertrauen sollte. »Das liegt so lange zurück«, insistierte Katty, »erzähl lieber von Wolodomir Huth, das ist eine spannende Geschichte.« Gertrud nahm mit Schadenfreude wahr, wie unwohl ihre Schwester sich fühlte. Sie rutschte auf dem Sessel herum und strich zum wiederholten Male die Tischdecke glatt, was eindeutig ein Zeichen ihrer Nervosität war. Das geschieht ihr recht, dachte sie, sie muss sich ja nicht in alles einmischen.
»Ach bitte, Frau Franken«, Wollentarski war offensichtlich von der merkwürdigen Situation verwirrt, jedenfalls irrlichterte sein Blick von einer Schwester zur anderen. »Lassen Sie ihre Schwester doch bitte weitererzählen.«
»Nein«, sagte Katty nun bestimmt, »ich glaube, meine Schwester braucht jetzt Ruhe. Kommen Sie morgen noch einmal vorbei. Für heute war es schon sehr viel. Vergessen Sie nicht, hundert Jahre sind kein Pappenstiel. Und für die große Feier am Sonntag soll sie fit sein. Morgen um zehn Uhr dürfen sie gerne wiederkommen.«
Gertrud war empört, aber Katty wirkte so entschlossen, dass weder sie noch Wollentarski Widerspruch ernsthaft in Erwägung zogen. Also ließ sich der Journalist von Katty aus dem Zimmer bugsieren und auf die nächste Sitzung vertrösten.
Wenn sie ehrlich war, hatte Katty recht, stellte Gertrud fest. Sie war wirklich erschöpft. Hundert Jahre waren tatsächlich anstrengend, selbst in der Erinnerung.
Dennoch nahm sie sich vor, ihre Schwester zur Rede zu stellen. Sie durfte ihr vor fremden Leuten nicht so in die Parade fahren. Und schon gar nicht, nur weil sie die Wahrheit nicht ertragen konnte. Katty musste die Schuld des Mannes, dem sie ihr Leben gewidmet hatte, endlich zugeben, sie würde darauf bestehen. Und während Gertrud noch grollte, übermannte die Erinnerung sie mehr und mehr und hatte sie schließlich vollkommen im Griff. Sie war zurück in der Vergangenheit; gelandet an ihrem unseligen Verlobungstag.
5. April 1915
Und er verlobt sich doch
Die Ostergesellschaft war inzwischen etwas aufgetaut. Die Getränke hatten Wirkung gezeigt, und sogar die Eheleute Hegmann hatten begonnen, Konversation zu machen. Gertrud war Katty und Heinrich aus dem Haus gefolgt. Sie hatte das ungleiche Paar mit schnellen Schritten überholt und sich an die Ostertafel gesetzt, als wäre sie tatsächlich nur kurz im Bad gewesen. Sie warf Franz einen Blick zu, von dem sie hoffte, dass er ihn für unbekümmert halten könnte, und beobachtete die Szenerie.
Höflich fragte man sich gegenseitig aus, und das Thema Landwirtschaft erwies sich
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