Wir sind doch Schwestern
Todesanzeigen besonders intensiv zu studieren, was in ihrem Alter nichts Außergewöhnliches war. Alles andere aber interessierte sie überhaupt nicht. Und wenn Gertrud sie bat, ihr den Leitartikel vorzutragen, dann auch, um sie hochzunehmen und sich für Josés ein oder anderen erpfuschten Sieg beim Kartenspiel zu rächen. Denn außer eingebildeten Krankheiten,Schlankheitsrezepten und dem perfekten Romméblatt hatte ihre Schwägerin keinerlei Vorlieben, sodass sie sich mit Namen und Fachausdrücken aus Politik und Wirtschaft schwertat. Und Gertrud hatte jedes Mal eine diebische Freude, wenn José sich durch die Artikel stammelte. Den Regionalteil der Zeitung verfolgte sie ebenfalls, aber nicht so intensiv. Wenn darin etwas über hundertste Geburtstage stand, mussten die Jubilare immer nur banale Fragen beantworten wie »Wie haben Sie es bloß geschafft, so alt zu werden? Was ist Ihr Geheimrezept? Aha, nicht rauchen, kein Alkohol, interessant. Vielen Dank und herzlichen Glückwunsch«. Junge Menschen waren den Alten gegenüber oft arrogant, fand Gertrud. Und weil sie es sich nicht anmerken lassen wollten, sprachen sie auf alte Menschen ein wie auf Schwachsinnige. Darauf hatte sie sich vorbereitet. Sie hatte sich vorgenommen, all diese langweiligen Fragen zu beantworten, bevor sie überhaupt gestellt wurden. Sie hatte dem Journalisten zeigen wollen, dass sie Bescheid wusste, hatte ihn ein bisschen provozieren und ihn als einfallslos bloßstellen wollen. Ihn, seine Jugend und seine Zunft. Sie hatte von den jungen Menschen heutzutage kein besonders gutes Bild, und von jungen Journalisten schon gleich gar nicht.
Der junge Mann war eine halbe Stunde zu spät gekommen, dadurch hatte sie sich in ihrer Abneigung bereits bestätigt gefühlt. Dennoch hatte er sich höflich vorgestellt. Wollentarski heiße er, er sei von Hause aus Historiker und freue sich, mit jemandem zu sprechen, der so vieles erlebt habe, die Erfindung des Telefons zum Beispiel, das Kaiserreich natürlich, beide Weltkriege, die erste Mondlandung, den Kalten Krieg und den Fall der Mauer. Er brenne darauf, zu erfahren, wie ein so lebenserfahrener Mensch denke.
»Starker Kaffee ohne alles und jeden Tag um elf Uhr einen Schnaps.« Gertrud hatte diesen vorgefertigten Satz unvermittelt ausgespuckt. Die Worte waren ihr aus dem Mund entwischt und sie hätte sie gerne zurückgenommen.
Wollentarski sah sie erst entgeistert und dann zutiefst mitleidig an. Er schien regelrecht enttäuscht, offenbar zerplatzten gerade seine kühnen Träume von einer Jahrhundertgeschichte. Vermutlich hatte er mit einer gebildeten, geistig agilen Frau gerechnet. Das war sie eigentlich ja auch. Nur würde Herr Wollentarski das jetzt kaum noch glauben, ärgerte sich Gertrud. Vielleicht hätte sich der Journalist wirklich für sie interessiert und eine spannende Geschichte geschrieben. Irgendetwas für den Stern oder die Brigitte. Gertrud war nicht übermäßig selbstverliebt, aber sie fand, ihr Leben würde so etwas schon hergeben. Eine Frau, die noch im 19. Jahrhundert geboren worden war, sich eigenständig und ohne Ehemann durchgeschlagen hatte. In großen Städten, am Rande einer kulturellen oder intellektuellen Szene, war das nicht schwer gewesen, aber auf dem platten katholischen Land war sie manches Mal schräg angeguckt worden. Wenn eine Frau hier dauerhaft allein blieb, ging sie entweder ins Kloster oder lebte als Anhängsel bei Bruder oder Schwager. Eine Frau ohne Mann war zu ihrer Zeit per se unschicklich gewesen. Aber dem Vorurteil hatte sie sich widersetzt und war auch allein sehr gut durchs Leben gekommen.
Davon hätte sie gerne erzählt. Aber nun war es wohl zu spät. Vermutlich hatte Herr Wollentarski schon beschlossen, den Artikel so zu schreiben, wie man einen Artikel über eine Hundertjährige eben schrieb.
»Das ist also Ihr Geheimrezept«, antwortete er also höflich. »Haben Sie es damit geschafft, so alt zu werden?« Wollentarski sprach extrem deutlich und schrie Gertrud fast an. Mein Gott, so taub bin ich nun auch wieder nicht, dachte sie enttäuscht.
»Was ist denn hier los?« Katty kam aus der Küche angelaufen. Der Journalist blickte sie unsicher an. »Ist alles in Ordnung? Ich habe Schreie gehört!«
»Nein, wir kommen sehr gut zurecht. Nicht wahr, Frau Franken?« Beim letzten Halbsatz schwoll seine Stimme wieder bedrohlich an. Gertrud hörte Kattys tiefes, abgehacktes Lachen: »Und ich sag noch, Gertrud, geh endlich mal zum Ohrenarzt. Das ist ja nicht zu
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