Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wir sind doch Schwestern

Wir sind doch Schwestern

Titel: Wir sind doch Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Gesthuysen
Vom Netzwerk:
dann zähle ich sie alle doppelt«, lachte die Wortführerin und schob das Glas zur Seite, das Katty ihr erneut gefüllt hatte. Man einigte sich also auf eine grobe Schätzung und plante zur Sicherheit ein Dutzend Würstchen mehr ein. Gertrud verlor sich in den eifrigen Stimmen, doch auf einmal wurde es still.
    Die Frauen blickten sie an. Gertrud war irritiert. Sie schaute an sich herunter, ob sie vielleicht einen Fleck übersehen hatte oder ihr sonst etwas Seltsames auffiel, aber da war nichts.
    »Was ist?«, fragte sie.
    »Tja, Frau Franken, wir müssten Sie jetzt mal irgendwie loswerden.«
    »Es könnte ja sein, dass wir noch etwas zu besprechen haben, was Sie nicht jetzt schon mitbekommen sollten.«
    »Ach, herrje«, brachte Gertrud hervor und merkte, dass es eher ein Krächzen gewesen war. Wie rührend, dachte sie und blickte Katty an, ihre schlechte Laune vom Nachmittag war vollends verflogen. »Na, dann will ich mal verschwinden und Paula Gesellschaft leisten, nicht wahr?«
    Als sie die Küchentür geschlossen hatte, hörte sie Jan hinter sich zischen: »Tommy, hier!« Jan, der alte Holländer ohne Nachnamen, hatte sein Zimmer auf der Tenne. Er kümmerte sich um Tommy, überhaupt um alle Tiere auf dem Hof. Jan war nicht etwa ein Pensionsgast, er gehöre auf dem Tellemannshof zum Inventar, sagte Katty stets liebevoll. Er lebte seit dreißig Jahren in einem winzigen Zimmer, darin standen ein Fernseher, ein Bett und eine Kommode. Einen Schrank brauchte Jan nicht, hatte er Gertrud einmal schulterzuckend erklärt, er hatte nämlich nur zwei Hosen und drei Pullover. Er wusch sich im Stall mit kaltem Wasser und selbst daran mussteihre Schwester ihn gelegentlich erinnern. Jan war offensichtlich Holländer, aber woher er kam, wie alt er war und ob es irgendwo Angehörige gab, wusste niemand. Jan sprach nicht darüber, er sprach sowieso nicht viel. Seine Stärke war es, mit Tieren zu kommunizieren. Wenn mit dem kleinen Schnauzer Tommy etwas nicht in Ordnung war, wusste Jan es als Erster. Zu den Ponys Heidi und Katja, die von Katty vor einigen Jahren als kleine Rasenmäher angeschafft worden waren, hatte er ein besonderes Vertrauensverhältnis. Er kraulte sie und schmuste mit ihnen und ließ sich dabei stundenlang den Kopf ablecken. Massage und Haarpflege der besonderen Art nannte er das, und Gertrud behagte die Vorstellung überhaupt nicht, aber Katty erklärte immer wieder, sie sei heilfroh, Jan auf dem Hof zu haben. Er war verlässlich, und selbst wenn sie ausging oder verreiste, wusste sie den Hof in guten Händen.
    Von seinen hygienischen Eigenarten einmal abgesehen, mochte Gertrud Jan. Das lag vielleicht auch daran, dass sie eine Schwäche für alles Rätselhafte hatte. Und Jan hatte ein Geheimnis, das war sicher. Das verriet ihr die Art und Weise, wie er da wohnte, halb im Keller, ein bisschen versteckt, wie er manchmal stundenlang unauffindbar war, um am nächsten Tag scheinbar aus dem Nichts wieder aufzutauchen. Seit ihrer Ankunft hatte Gertrud Jan noch nicht gesehen.
    »Guten Tag, Jan«, sagte sie deshalb erfreut. »Wie geht es Ihnen?«
    »Tommy, hier!«, war das Einzige, was Jan herausbrachte. Er spuckte Kautabak auf den Boden und streckte Gertrud die Hand entgegen.
    »Das wollten wir doch lassen, das Ausspucken«, ermahnte sie ihn und gab ihm die Hand. Sie war verwundert, wie wenig sie die ungehobelten Manieren störten. Jan erinnerte sie an eine Geschichte, die sie selbst erlebt hatte. Nicht zuletzt, weil ihre Geschichte auch mit Holland zu tun hatte, und außerdem war Jan ein guter Zuhörer. Oder zumindest einer, der sie, anders als ihre Schwestern, nicht ständig unterbrach. Und so war es für Gertrud zu einem schönen Ritual geworden, Jan stets aufs Neue die Geschichte von Wolodomir Huth zu erzählen.
    Wolodomir hieß vermutlich Wladimir, aber durch seine gutturale Aussprache klang es wie Wolodomir. Er war als »Ostarbeiter« an den Niederrhein verschleppt worden. Ostarbeiter waren Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter, die in der Industrie und Landwirtschaft mitanpacken mussten. Wenn man Wolodomir sah, wusste man sofort, warum man ihn nach Deutschland geschickt hatte. Er sah aus wie ein Baum und konnte unermüdlich arbeiten. Eigentlich stammte er aus der Ukraine und war in Veen auf einem großen Bauernhof untergebracht. Dort lebten mehrere Ostarbeiter unter haarsträubenden Bedingungen. Sie schliefen in den Ställen, manche auf dem nackten Dachboden, eine Toilette oder ein Waschbecken gab es ebenso wenig wie

Weitere Kostenlose Bücher