Wir sind doch Schwestern
bewusst. Franz hatteeine Familienrevolution angezettelt und dennoch die Fassade gewahrt.
Franz’ Vater hatte die Brisanz offenbar nicht begriffen. Vielleicht war er angetrunken, seine Wangen waren zumindest auffallend gerötet, vielleicht sonnte er sich aber auch in dem seltenen Gefühl, noch einmal etwas zu sagen zu haben, gefragt zu werden, eine Entscheidung zu treffen. Er ließ, ganz entgegen sonstiger Gewohnheit, seinen Blick schweifen, schaute zunächst seinem jüngeren Sohn, anschließend seiner Frau bedeutungsschwer in die Augen, dann stand er auf und räusperte sich.
»Mein Sohn, deine Mutter und ich wünschen dir, dass all die Liebe, die du empfindest und zu geben bereit bist, von der Frau deiner Wahl erwidert wird. Unseren Segen hast du.« Johannes Hegmann holte tief Luft, als würde die Rede jetzt erst beginnen. Ein »und …« lag in der Luft, es schien, als suche er nach den richtigen Worten. Aber da er offensichtlich schon seit Jahren keine Ansprache mehr gehalten hatte und ihm auch partout kein zweiter Satz einfallen wollte, ließ er die überschüssige Luft mit einem »Joh« entweichen, nahm wieder Platz und die ungesprochenen Worte waberten über der Kaffeetafel.
Franz war nun nicht mehr zu stoppen. Er drehte sich feierlich zu Gertruds Eltern um und hielt in aller Form um ihre Hand an. Gertrud hatte das Gefühl, als folgte sie seinen Worten aus sehr großer Entfernung. In ihrem Ohr piepte es furchterregend, vor ihren Augen tanzten bunte Muster und in diesem Moment verstand sie zum ersten Mal, warum Mädchen bei Heiratsanträgen so oft in Ohnmacht fielen: Sie vergaßen zu atmen.
Auch ihr Vater war zu emotional, um die feierliche Nüchternheit dieser Zeremonie durchzuhalten. Gertrud hatte bemerkt, dass er schon seit ein paar Minuten Mühe hatte, seine wippenden Beine unter Kontrolle zu bringen. Jetzt, als er endlich an der Reihe war, sprang er auf, machte einen Schritt auf Franz zu und nahm ihn stürmisch in den Arm.
»Sie sind mir bereits wie ein Mitglied meiner Familie ans Herz gewachsen«, sagte er, »mit Freuden gebe ich Ihnen meine Tochter zur Frau. Wenn sie einwilligt, mein Sohn, würdet ihr mich zu einem glücklichen Vater und hoffentlich bald zu einem noch glücklicheren Großvater machen.«
Franz lachte laut auf, er schien wie betäubt von seiner eigenen Unverfrorenheit. Er hatte Heinrich einfach ignoriert und ihm für den Moment jede Macht genommen. Heinrich konnte nicht eingreifen, er hätte seinen Vater damit erneut öffentlich gedemütigt, erkannte Gertrud, wie damals bei den Verhandlungen über die Milchpreise. Das hatte ihn laut Franz die Liebe seines Vaters gekostet und auch das Verhältnis zur Mutter getrübt, und so hatte Franz sicher sein können, dass Heinrich seine Eltern nicht erneut auf diese Weise brüskieren würde.
Dass sein Kalkül aufgegangen war, verlieh ihm ungeahnte Kräfte. Seine Wangen glühten, als er sich vor Gertrud niederkniete.
Aufgeregt nestelte er an seiner Westentasche herum und zog ein kleines Kästchen hervor. Er klappte den Samtdeckel mit Schwung auf. Beinahe zu schwungvoll, denn der Ring darin hüpfte bedrohlich und wäre um ein Haar auf dem Rasen gelandet. Dann nahm er Gertruds Hand in seine, schaute sie verliebt an und bat sie, seine Frau zu werden.
Gertrud spürte, dass sie inzwischen hochrot angelaufen war. Sie war überglücklich. Natürlich. Das schon. Aber nach dem Drama im Flur war sie völlig konfus. Nicht, dass sie Franz nicht auch hätte heiraten wollen. Nicht, dass sie ihn nicht liebte. Aber warum hatte ihr eigentlich niemand gesagt, wie man sich in diesem Moment zu verhalten hatte? Was wurde von ihr erwartet? Einfach Ja sagen? Oder sollte sie ihn statt einer Antwort küssen? Oder ihm ihren Ringfinger entgegenstrecken?Nein, das hätte ja geradezu gierig gewirkt. Sie wollte bloß keinen Fehler machen. Sie wollte Franz und seiner Familie beweisen, dass sie ihrer würdig war. Wenn sie jetzt patzte, würde Franz es sich vielleicht doch noch anders überlegen. Sie fühlte sich wie gelähmt und sah sich nicht in der Lage, auch nur einen Ton über die Lippen zu bringen. Hilflos blickte sie zu ihrem Vater.
Der, so wie alle anderen am Tisch, schien ihr Zögern falsch zu deuten. Ihre Eltern nickten ihr beschwörend zu, Gertruds Mutter machte dabei ein Gesicht wie beim Abschmecken der Salatsauce, wenn sie zu viel Essig hineingekippt hatte.
In Heinrichs Zügen konnte man die Andeutung eines triumphierenden Lächelns erkennen, auf den Gesichtern
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