Wir sind doch Schwestern
als äußerst dankbar. Gertruds Vater interessierte sich brennend für die neuesten Erntemaschinen. Nicht, dass er sich eine Mähmaschine oder einen Traktor, wie es sie angeblich in Amerika schon gab, jemals hätte leisten können, aber die Tatsache, dass es solche gab und wie viel Muskelkraft sie ersetzen konnten, faszinierte ihn. Er ließ sich anstecken von Franz’ Technikbegeisterung, der auch bei Erntegeräten jede Schraube und jede Pferdestärke zu kennen schien. Ihr Vater war bemüht, mit jeder Geste und jedem Wort sein Wohlwollen auszudrücken. Gertrud beobachtete, wie er immer ein bisschen zu laut lachte, wenn Franz etwas erzählte, was allenfalls zum Schmunzeln geeignet war. Aber es war nicht unangenehm. Sie wusste, dass ihr Vater es gut meinte, und auch Franz war klug genug, um Ludwigs Verhalten als das zu deuten, was es war: eine Aufmunterung zum Antrag.
Als Heinrich und Katty nach einem kurzen Zwischenstopp am Osterglockenbeet gemeinsam angewackelt kamen, schien die Luft plötzlich zum Zerreißen gespannt.
Gertrud betrachtete den Watschelgang des ungleichen Paares. Am liebsten hätte sie ihre kleine Schwester von diesem Mann weggezerrt. Sie ermahnte sich, die Fassung zu bewahren, und betrachtete das Bild, das sich ihr bot. Katty hatte ihr Händchen nach oben gestreckt, um die prankengleiche Hand von Heinrich zu erreichen. Da sie aber immer noch nicht groß genug war, musste sich Heinrich etwas linkisch zur Seite beugen. Bei jedem Schritt winkelte er nun ein Bein ein wenig stärker an als das andere, sodass es aussah, als würde er humpeln. Katty daneben hüpfte bei jedem Schritt, und es wirkte, als säßen die beiden auf einer Wippe. Gertrud beglückwünschte sich zu der Idee, Katty mitzubringen. Die Kleine hatte eine erstaunliche Wirkung auf Menschen: Ihr gelang es mühelos, jeden für sich einzunehmen. Selbst Heinrich. Und das war nun wirklich eine Glanzleistung. Vielleicht hatte er ja doch eine weiche Seite und überdachte sein hartes Urteil noch einmal, überlegte Gertrud, andererseits hatte Franz mehrmals zu ihr gesagt, Heinrich sei wie eine uneinnehmbare Festung, normalen menschlichen Regungen gegenüber sei er verschlossen. Vor ihrem geistigen Auge sah Gertrud ihre kleine Schwester Attacke brüllen, die Fünfjährige war gerade dabei, die Trutzburg mit kindlichem Charme zu stürmen. Sie saß inzwischen völlig unbekümmert auf Heinrichs Knien und beschrieb mit wachsender Begeisterung ihre Erlebnisse. Viel gab es allerdings nicht zu berichten, und so erzählte sie unablässig die immer gleiche Geschichte mit nur geringer Varianz. Darin ging es um die Schafe Hera, Aphrodite, Diana und den Bock namensSöckchen. Söckchen hieß eigentlich Herkules, aber Katty fand Söckchen passender. Der Bock hatte das typische beige Fell wie alle anderen Schafe auch. Nur ein Fuß war interessanterweise schwarz. Katty erfand außerdem einen großen bösen Wolf, den es in Empel noch nie gegeben hatte, der jedoch in ihren Kinderfantasien herumspukte und vor dem sie die Schafe fast täglich retten musste. Und bei jeder Wendung, die ihre Geschichte nahm, erfreute Heinrich seine kleine Freundin mit der erhofften Reaktion. Er machte große Augen, wenn sie vom Schrecken der Schafe berichtete, er staunte, wenn sie von ihren dramatischen Rettungsversuchen erzählte, und er lachte, wenn die Schafe dem bösen Wolf zum wiederholten Male entkommen waren.
Plötzlich schlug Franz seine Gabel an das Weinglas.
Er stand auf. Alle hielten den Atem an. Gertrud wurde rot. Heinrich ebenfalls. Gertrud vor Freude darüber, dass Franz sich nun doch ein Herz gefasst hatte, und Heinrich vermutlich, weil er zornig darüber war.
»Mein lieber Vater, geliebte Mutter. Ich habe die Familie Ludwig Franken nicht ohne Grund zu diesem gemeinsamen Osterfest eingeladen. Seit einem halben Jahr habe ich die Freude, Gertrud Franken zu kennen. Sie ist eine reizende, liebenswerte und tugendhafte junge Frau. Würdet ihr mir die Erlaubnis geben, hier vor euch allen als Zeugen, um ihre Hand anzuhalten?«
Gertrud wagte nicht auszuatmen. Sich an seine Eltern zu wenden, war ein kluger Schachzug von Franz, er hielt damit einfach an einer gängigen Familienhierarchie fest. Der Vater war schließlich offiziell das Familienoberhaupt, und wie merkwürdig hätte es da uneingeweihten Gästen erscheinen müssen, wenn er seinen Bruder um Zustimmung ersucht hätte. Welche Ungeheuerlichkeit da gerade tatsächlich geschah, war deshalb wohl nur Gertrud, Franz und Heinrich
Weitere Kostenlose Bücher