Wir sind doch Schwestern
wachte man anschließend mit glühenden Wangen und trockenem Mund wieder auf. Gertrud fühlte sich, als hätte sie Fieber. Sie saß kerzengerade und stocksteif, aber nicht etwa aus Überzeugung, sondern weil die Rückenlehne dieses abscheulichen Teils unnachgiebig gerade war. Selbst Hundertjährige waren so zu einer aufrechten Haltung gezwungen. Der Vormittag mit dem Journalisten hatte sie angestrengt, sie fühlte sich erkältet und fiebrig. Ob sie einen Arzt rufen lassen sollte?
Vermutlich bekommt mir die Erinnerung nicht, dachte sie, Katty hat schon recht, das ist alles furchtbar lange her. Sie beschloss, einen starken Kaffee zu trinken, der würde sie wieder auf die Beine bringen. Alle Frankens hatten niedrigen Blutdruck, das war gut fürs Herz, aber manchmal verfluchte sie ihren Körper. Wenn sie morgens keinen starken Kaffee ohne Milch und Zucker bekam, hatte sie den ganzen Tag über Ohrensausen. Und das war keine Alterserscheinung. In Kriegszeiten, als es kaum Kaffeepulver gab, war sie morgens kaum aus dem Bett gekommen, oftmals hatte sie mit Schwindel zu kämpfen gehabt. Wenn die Familie sonntags geschlossen in die Kirche ging, kippten die Frankensmädchen immer der Reihe nach um, sobald der Pastor mit der Weihrauchschale vorbeikam. Die Abergläubigen im Dorf werteten das als Zeichen eines zu schwachen Glaubens. In Wahrheit war es einfach nur Zeichen eines zu schwachen Kreislaufs. Am besten hatte sich später Katty damit arrangiert. Sie erklärte sich zur Nachteule und blieb häufig bis elf Uhr morgens im Bett. Erst dann hatte sie genügend Schwung für den Tag.
Gertrud war heiß, sie war keine überheizten Räume gewohnt. Ihr Leben lang hatte sie Disziplin gehalten, und dazu gehörte auch, dass man es in der Wohnung lieber ein paar Grad kühler hatte, als die moderne Welt es gerne mochte. Diese Härte gegen sich selbst, davon war sie überzeugt, hatte sie so alt werden lassen. Kein Zucker, weder in der Nahrung noch im Alltag. Das süße Leben lag ihr nicht.
Ob das mit Franz anders geworden wäre? Dieser Gedanke beschäftigte sie in den letzten Wochen wieder häufiger. Vermutlich lag es an ihrem runden Geburtstag. Es war sicher normal, dass man da sein Leben Revue passieren ließ und in Tagträumen versuchte, das Geschehene ungeschehen zu machen, beruhigte sie sich. Oder das Ungeschehene geschehen zu lassen. Was wäre gewesen, wenn sie Franz ein Kind geboren hätte? Einen kleinen Jungen, seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie hätte ein Stück ihres Glücks behalten können. Die Zeit mit Franz war die schönste ihres Lebens gewesen. In ihrem Alter gab es nur noch eine Hoffnung, und das war der Tod. Vielleicht hielt der ja nach hundert Jahren auf derErde sogar eine angenehme Überraschung bereit. Eine Ewigkeit mit dem Mann, den sie seit Ewigkeiten liebte. Jetzt werde ich auch noch kitschig auf meine alten Tage, dachte Gertrud.
Sie fragte sich, wo ihre Schwestern sich aufhielten, es war ungewöhnlich still im Haus. Sie blickte auf die Uhr, halb zwei. Am Fenster sah sie einen Hut vorbeiziehen, darunter musste sich Jan befinden. Das Wohnzimmer lag im Hochparterre, ein paar Stufen oberhalb des Hofgeländes. Große Menschen konnten mit Mühe von außen hineinblicken, kleinere, wie der alte Holländer, liefen unbemerkt unter dem Fenster durch, es sei denn, sie hatten einen Hut aufgesetzt. Es war ein komischer Anblick, und er brachte Gertrud auf die Idee, frische Luft zu schnappen. Ihren Kaffee würde sie später trinken, vielleicht zusammen mit Katty und Paula.
Draußen schaute sie für einen Moment in den Himmel. Das wäre ein Wetter nach seinem Geschmack gewesen, dachte sie und meinte Franz. Sie blinzelte und fragte sich, ob es sich lohnte, mit hundert Jahren noch eine Sonnenbrille zu kaufen. Innerlich winkte sie ab, das würde sicher lächerlich wirken. Sie dachte daran, wie Franz mit seiner Fliegerbrille und der Mütze ausgesehen hatte, man hatte ihn so verhüllt kaum erkennen können.
Bald nach der Verlobungsfeier war Franz vom Militär eingezogen worden. Heinrich als Hausherr hatte angegeben, ihn auf dem Hof als Hilfe nicht mehr zu benötigen, und damit seinen eigenen Bruder in den Krieg geschickt. So zumindest sah es Gertrud bis heute. Er musste gewusst haben, welcher Gefahr er seinen Bruder mit diesem trotzigen Schreiben an die Behörden aussetzte. Die kaiserlichen Truppen brauchten jeden Mann. Und jemanden, der wie Franz körperlich und geistig überdurchschnittliche Leistungen versprach,
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