Wir sind doch Schwestern
nahmen sie besonders gern. Im Herbst 1915 war die kaiserliche Einberufung gekommen, Franz wurde aufgefordert, sich beim preußischen Regiment in Münster zu melden, und Gertrud hatte einen Wutanfall bekommen. Sie hatte Heinrich verflucht und Franz hatte sie nur mit Mühe davon abhalten können, seinen Bruder auf dem Tellemannshof aufzusuchen, ihn am Schlafittchen zu packen und ihm die Leviten zu lesen wie einem ungehorsamen Bengel in der Schule, so jedenfalls hatte sich Franz diese Szene ausgemalt. Er sei ganz froh über diese Wendung, Heinrich und er hätten es einvernehmlich entschieden, hatte er Gertrud versichert, denn nur beim Militär könne er sich einen lang gehegten Wunsch erfüllen und Pilot werden. Wer, wenn nicht er, so hatte er Gertrud zu beruhigen versucht, wäre in der Lage, eine Maschine durch die Lüfte zu jagen. Gertrud solle sich keine Sorgen machen, er sei mit Sicherheit geschickter als diese dummen Engländer. »Ich mache mir aber Sorgen«, hatte sie geschrien und seine Sorglosigkeit verwünscht. Es war das einzige Mal, dass sie sich wirklich gestritten hatten.
Als Gertrud Jan am Zaun der kleinen Pferdewiese sah, blieb sie kurz stehen und nickte ihm zu, er entblößte seine Zähne und ließ sich von Heidi abschlecken, und Gertrud lief weiter die Straße entlang. Die frische Luft tat ihr gut, und so beschloss sie, bis zum Friedhof zu gehen, das war weit, vielleicht sechshundert Meter, schätzte Gertrud. Auf dem Friedhof lagen ihre Eltern begraben. Auch ihr Bruder Josef lag hier, Josés Ehemann. Er war zusammen mit seinen Söhnen begraben. Als sie vor dem Grab stand, traten Gertrud die Tränen in die Augen, und sie schämte sich, weil sie manchmal vergaß, welches Schicksal ihre Schwägerin vor langer Zeit durchlitten hatte. Sie hatte beide Söhne verloren, nicht im Krieg, sondern 1957 auf der Straße.
Der vierzehnjährige Ludwig war mit dem Fahrrad auf dem Weg zur Volksschule gewesen. Er kannte die Strecke, er fuhr sie täglich. Warum das Unglück passieren konnte, hatte dieFamilie nie erfahren. Vielleicht war der Junge nicht ausgeschlafen gewesen, vielleicht war auch der Lkw-Fahrer schuld, weil er zu nah am Fahrbahnrand fuhr. Jedenfalls geriet das Lenkrad des Fahrrads zwischen Anhänger und Führerhaus, Ludwig wurde einige hundert Meter mitgeschleift und dann auf den Asphalt geschleudert, die Schädeldecke war gleich mehrfach gebrochen. Man brachte ihn ins Xantener Krankenhaus und alarmierte seine Eltern. Als Josef und José ankamen, lebte ihr Sohn noch, aber sie konnten schon nicht mehr mit ihm sprechen. Vierzehn Tage lag der Junge im Koma, dann hatte er es überstanden. Die Familie trauerte, und noch während der Trauerphase passierte das Unfassbare. Der jüngere Bruder Albert starb zwei Monate später an derselben Kreuzung. Er schien Angst gehabt zu haben, vermutlich war er nervös, weil sein Bruder hier gestorben war. Augenzeugen sahen den Jungen, wie er vom Fahrrad stieg und die Straße überqueren wollte. In der Mitte der Straße blieb er plötzlich stehen, überlegte und machte einen tödlichen Fehler. Er drehte das Fahrrad herum und wollte zurück auf die Straßenseite, von der er gekommen war. Doch inzwischen war ein Auto herangerast. Es schleuderte den kleinen Albert hoch in die Luft. Er war sofort tot. Als der Bestatter den Holzsarg zu José und Josef auf den Hof brachte, brach José zusammen. Niemand in der Familie erholte sich jemals von diesem Verlust. Gertruds Bruder starb einige Jahre später. Es sei Leberkrebs gewesen, hatten die Ärzte gesagt, aber Gertrud war sicher, dass er an gebrochenem Herzen gestorben war. José hatte den Verlust ihrer Männer zwar um Jahrzehnte überlebt, doch sie war eine einfältige, manchmal selbstbezogene Frau geworden. Kein Wunder, dachte Gertrud, wie soll man da bei klarem Verstand bleiben. Sie nahm sich vor, nachsichtiger mit José zu sein, selbst wenn die mitten in der Nacht anrief und allen Ernstes behauptete, sie habe »Jeister« in der Wohnung.
Sie ging ein paar Schritte weiter zum Grab ihrer Eltern. Katty hatte dafür gesorgt, dass ihr Vater in Wardt begraben wurde, sie hatte versprochen, sich um das Grab zu kümmern. Das tat sie bis heute mit großer Sorgfalt. Ihre Schwester war manchmal schwierig und bockig, dachte Gertrud, aber man konnte ihr einen ausgeprägten Familiensinn nicht absprechen. Auf dem Grabstein hatte Katty später auch den Namen ihrer Mutter anbringen lassen, aber umgebettet hatten sie sie nicht.
Gertrud merkte, wie
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