Wir sind doch Schwestern
sich, als fiele sie immer tiefer in ein schwarzes Nichts. Heinrichs hilflose Beileidsbekundungen gingen in ihrem Schreien unter. Sie brüllte Franz’ Namen, hielt sich die Hände vors Gesicht, dann ging sie auf Heinrich los. »Mörder!«, hörte sie sich rufen, »du Mörder!«, und knallte ihm ihre langen Finger ins Gesicht, dass es nur so klatschte. Wie von Sinnen schlug sie nach ihm, erwischte mal seinen Kopf, mal seine Brust.
Heinrich wehrte sich nicht. Er stand regungslos da, nur seine Hände hatte er schützend vors Gesicht gehoben. Ihr Vater versuchte, sie in den Arm zu nehmen und zu beruhigen, doch sie riss sich los und rannte weg. Sie lief, bis sie nicht mehr konnte. Ihre Lunge brannte und ihr war speiübel. Sie lief bis zum Rheinufer über die Wiesen. Ein paar Mal stolperte sie und stürzte. Sie schlug sich auf dem gefrorenen Boden die Knie auf. Es war ihr egal. Gertrud sah den Fluss und zog sich bis auf die Unterwäsche aus. Dann legte sie sich auf den Boden und trommelte mit den Fäusten auf ihn ein. Die Feuchtigkeit und Kälte taten ihr gut. Je mehr körperliche Schmerzen sie hatte, desto weniger schmerzte ihre Seele. Sie nahm zwei Steine, einen großen und einen kleinen. Sie legte eine Hand auf den großen Stein, griff mit der anderen den kleinen und hämmerte damit auf ihre Finger ein, bis die Knöchel bluteten.
Der 100. Geburtstag – Freitag
Ablasshandel
»Gertrud, nun komm doch zu dir«, hörte sie ihre Schwester rufen, und es dauerte eine Weile, bis sie bemerkte, dass ein Arzt bei ihr war. Der hielt einen merkwürdig großen Abstand und blickte sie mit einer Mischung aus Bestürzung und Zorn an.
»Frau Franken, wissen Sie, wer ich bin?«, fragte er. Gertrud wurde ärgerlich, was erlaubte sich dieser unverschämte Kerl eigentlich? Sie war weder wirr noch senil, selbstverständlich erkannte sie ihren Hausarzt. Aber was machte der hier in Wardt? Als sie den Kopf hob, wurde ihr schwindlig. Sie lag im alten Eichenbett im Erdgeschoss.
Katty saß auf der Bettkante, während der Arzt sich aus seiner Deckung vorsichtig zu ihr hinunterbeugte.
»Hier, nehmen Sie das zur Beruhigung«, sagte der Doktor und hielt ihr ein Glas Wasser und eine Tablette hin. Gertrud schlug seine Hand ärgerlich weg, und das Wasser spritzte dem Arzt übers Hemd.
»Gertrud, nun sei doch vernünftig«, ließ sich prompt Katty vernehmen, »sonst muss der Herr Doktor dir eine Spritze geben. Ich habe dich vor einer Stunde im Flur auf dem Boden gefunden. Wahrscheinlich hast du dir den Kopf angeschlagen und eine Gehirnerschütterung. Du musst jetzt ausruhen. Sonst lade ich die Gäste für Sonntag wieder aus.«
Das macht sie sowieso nicht, dachte Gertrud. Katty würde sich niemals ein Fest entgehen lassen. Und wenn die zu feiernde Jubilarin krank war, würde Katty notfalls allein Hof halten. So wie sie es immer gemacht hatte. Sie war eine perfekte Ergänzung für den großen Heinrich Hegmann gewesen. Katty liebte es, besondere Ereignisse zu zelebrieren. Und Heinrich hatte sie nicht nur gewähren lassen, er hatte sie sogar ermuntert, sich in ihrem Organisationstalent gesonnt und davon profitiert. Wer weiß, vielleicht wäre seine politische Karriere nach dem Krieg nicht wieder so reibungslos verlaufen, wenn Katty es nicht verstanden hätte, die Crème de la Crème der Politik so vortrefflich zu bewirten, dachte Gertrud. Was sie für Heinrich getan hatte, nannte man heutzutage PR -Beratung, hatte neulich eine ihrer Nichten mit Bewunderung festgestellt. Damals hatte es noch keinen Begriff für Kattys Schaffen gegeben, und die Wirkung war umso verblüffender gewesen. Ihr war es immer wieder gelungen, Heinrichs Namen in die Zeitung zu bringen, sie hatte das Bild eines gütigen, heimatverbundenen Landwirts erschaffen, dem nichts wichtiger war als sein Land und die Menschen, die sich davon ernährten. Für Gertruds Geschmack war das allenfalls die halbe Wahrheit gewesen. Dass er seinen Bruder auf dem Gewissen hatte, wollte Katty bis heute nicht wahrhaben. Gertrud war sich nicht sicher, ob ihre Schwester in diesem Punkt naiv war oder eigennützig, denn mit dem Politiker Heinrich war Katty einer Macht nahegekommen, die weit über das hinausging, was sie von Stand und Ausbildung her hätte erwarten dürfen. Heinrich war Politiker durch und durch gewesen, und er hatte Kattys Vorzüge schon früh erkannt und für sich zu nutzen gewusst: ihr einnehmendes Wesen und den ausgeprägten Hang zur Selbstdarstellung. Mit dieser Begabung hatte sie
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