Wir sind doch Schwestern
größten Teil des Weges galoppiert, denn die Fuchsstute war nass geschwitzt und schäumte am Hals, wo die Zügel das Fell aufgerieben hatten. An der Flanke blutete sie ein wenig, als hätte man ihr heftig die Sporen gegeben. Heinrich stieg vom Pferd und wurde sofort von den Frankens umringt. Gertruds Brüder kannten den eleganten Mann nicht und scharten sich neugierig um ihn. Josef nahm Heinrich wie selbstverständlich die Zügel aus der Hand und ging mit dem schwitzenden Pferd spazieren.
»Geh in den Stall, nimm dir ein bisschen Stroh und reib die Stute damit trocken!«, rief Gertruds Vater seinem Sohn hinterher. Er war gerade dabei gewesen, die Sauen auszumisten, und sah wild aus. Er hatte einige Strohhalme im Haar, sein Hemd war fleckig und verschwitzt, die Ärmel waren trotz der winterlichen Temperaturen unordentlich aufgekrempelt, und er hatte tiefrote Wangen. Wahrscheinlich riecht er fürchterlich nach Schwein, dachte Gertrud. Sie stand wie angewachsen am Fenster, unfähig, sich zu entscheiden, ob sie hinausgehen oder sich in ihrem Zimmer verkriechen sollte. Sie hatte Angst, sie wollte es nicht hören. Gertrud fühlte ihr Herz in der Kehle pochen. Sie spürte, was Heinrich sagen würde, aber sie hoffte gleichzeitig, dass Franz vielleicht nur verletzt wäre, dass er irgendwo in einem Lazarett läge und Heinrich gebeten hatte, seine Verlobte zu ihm zu bringen. Sie bemerkte, wie sie ihre Hände vor Anspannung zu Fäusten geballt hatte.
»Geht und holt Gertrud, und dann verschwindet ihr alle.« Ihr Vater hatte die Kinder losgeschickt, um sie suchen zu lassen. Man hatte sie also noch nicht entdeckt. Sie könnte loslaufen und sich verstecken. Aus der Hintertür hinaus, übers Feld und in die Scheune des Nachbarn. Niemand würde sie dort finden, niemand könnte es ihr sagen, sie würde es nie erfahren, vielleicht wäre es dann nicht geschehen. Doch es war zu spät. Katty stand mit wichtiger Miene in der Tür. »Der Heinrich ist da«, sagte sie hastig und Gertrud wunderte sich, dass ihre kleine Schwester den Mann anscheinend sofort wiedererkannt hatte. Sie hatte ihn doch zuletzt vor fast zwei Jahren gesehen. »Du sollst zu ihm herauskommen, sagt Papa. Und wir müssen aufs Zimmer.« Katty hatte ihren Auftrag erledigt, sie drehte sich auf dem Absatz um und stapfte die Treppe hinauf. Seltsam, dachte Gertrud, sonst ist sie nie so folgsam. Sie sah, wie ihr Vater gestikulierte und aufs Haus zeigte. Heinrich schüttelte den Kopf. Dann ließ ihr Vater Heinrich stehen, kamans Fenster und winkte sie heraus. Als sie sich immer noch nicht regte, kam er selbst ins Haus. Behutsam fasste er Gertrud an den Schultern und schob sie hinaus. »Heinrich Hegmann ist da, mein Liebes, er will mit uns sprechen.« Seine Stimme war sehr sanft. Gertrud fühlte sich, als liefe sie durch einen engen Tunnel. Sie hörte ihr Blut rauschen, diesmal so laut, dass sie ihren Vater kaum verstehen konnte, seine Stimme erschien ihr unendlich weit weg, dabei war sein Mund direkt neben ihrem Ohr. Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit, bis sie Heinrich erreichten. Ihr Vater hatte immer noch beide Hände an ihren Schultern. Er stützte sie und hielt sie gleichzeitig fest. Plötzlich nahm er erst die eine, dann die andere Hand für einen kurzen Moment weg, und sie merkte, dass er ihr einen Mantel umgelegt hatte. Sie spürte keine Kälte. Ich muss mich konzentrieren, ermahnte sie sich, ich muss hören, was Heinrich mir sagt. Eigentlich hatte sie das Bedürfnis, sich die Ohren zuzuhalten wie ein Kind, und im selben Moment hörte sie sich sagen: »Nun sprich endlich!«
Heinrich schaute ihr in die Augen. Er machte die Andeutung eines Kopfschüttelns. Er schluckte, es fiel ihm sichtlich schwer, seine Gefühle unter Kontrolle zu bringen. Ludwig fasste ihre Schultern noch ein wenig fester, er krallte sich geradezu an ihr fest. Es tat weh, doch Gertrud bewegte sich nicht. Sie schaute Heinrich an, und er hielt ihrem Blick stand.
»Sie haben ihn erwischt«, sagte er leise, »über Holland. Franz ist tot.«
Bei Amsterdam hatte Franz einen Luftkampf verloren, berichtete Heinrich stockend. In seiner Brust steckte eine britische Kugel, in seiner Brusttasche, direkt daneben, fand man ein kleines Samtkästchen mit zwei Ringen. Und dieses Kästchen hielt Heinrich nun Gertrud hin. »Mein Bruder hätte gewollt, dass du diese Ringe bekommst. Gertrud, wenn ich dir, wenn ich deiner Familie helfen kann, zögere nicht …«
Gertrud sackte der Boden unter den Füßen weg, sie fühlte
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