Wir sind doch Schwestern
glücklich darüber. Ich habe Vater gleich gesagt, er soll das nicht zulassen.«
»Vater war damals sehr froh, dass er Katty hier unterbringen konnte. Er hätte ihr keine Ausbildung mehr bezahlen können, erinnerst du dich denn nicht? Wie mussten den Hof sogar verkaufen. Für Katty war es ein großes Glück, dass Heinrich sie aufgenommen hat. Er hat sich nach Franz’ Tod sehr anständig verhalten.«
Gertrud blickte an die Decke. Ja, wenn man es nicht besser wusste, dann konnte man Heinrich so sehen. In Wahrheit hat er eine Art Ablasshandel betrieben, dachte sie, wie im Mittelalter in der katholischen Kirche. Als wollte er sich, indem er Katty aufnahm, von seinem schlechten Gewissen freikaufen. Aber so etwas funktionierte nicht. Und selbst wenn ihre Schwestern anders über Heinrich dachten, sie würde dazu nicht mehr in der Lage sein.
»Weißt du, Gertrud«, sagte Paula sanft, »ich habe gestern noch lange über die Geschichte mit Wolodomir Huth nachgedacht. Du hast geglaubt, das Richtige zu tun, und das hatte für einen anderen Menschen fatale Konsequenzen. Vielleicht ist es Heinrich genauso ergangen.«
Paula streichelte ihre Wange, wie um jede Gegenrede im Keim zu ersticken. Dann ging sie und ließ Gertrud mit diesem Gedanken allein zurück.
Der 100. Geburtstag – Freitag
Auf dem Hof
Katty liefen die Tränen über die Wangen und sie wusste selbst nicht so genau, ob sie traurig war oder wütend. Heftig drückte sie das alte Bügeleisen auf den Kopfkissenbezug. Das Bügelbrett darunter ächzte. Sie hatte sich einen Haufen Bettwäsche ins Esszimmer geholt. Bügeln half immer, wenn sie aufgewühlt war. Die stupide Arbeit beruhigte ihre Nerven. Außerdem musste das Zeug ohnehin fertig werden für die Übernachtungsgäste, die morgen kommen würden. Muss sie immer gleich so grundsätzlich werden?, ärgerte sie sich. Ich hätte schon immer manipuliert. Was will sie denn damit andeuten? Gertrud hatte ihre eigene Sicht der Dinge, und Katty bedauerte es sehr, dass ihre Schwester, wie viele Lehrerinnen, die sie kennengelernt hatte, besserwisserisch war. Sie ließ sich nie von einer Meinung abbringen, weder wenn es um ein Kuchenrezept ging noch um den Charakter eines Menschen.
Dabei wusste Katty nur zu genau, dass Gertrud in ihrem Urteil über Heinrich völlig falsch lag. Er hatte ihr erzählt, wie verzweifelt er damals gewesen war. Auch er hatte mit sich gehadert und sich gefragt, ob er den Tod seines Bruders hätte verhindern können. Aus lauter Gram hatte er sich sogar freiwillig zum Militär gemeldet und war in den Krieg gezogen. Als er zurückgekommen war, hatte er auf dem Hof noch mehr Trauervorgefunden. Seine Mutter war gestorben und sein Vater darüber schwachsinnig geworden. Tagein, tagaus saß er neben dem Ofen und stierte vor sich hin. Selbst zu den Mahlzeiten blieb er dort sitzen und erhob sich erst pünktlich um acht Uhr abends, um auf sein Zimmer zu gehen. Johannes Hegmann hatte beschlossen, auf den Tod zu warten, und damit dieser möglichst wenig Mühe hätte, ihn zu finden, gab es für ihn nur noch diese beiden Aufenthaltsorte. Das war zumindest Heinrichs Interpretation gewesen.
Und Heinrich hatte nicht nur sein eigenes Schicksal getragen. Er hatte auch Verantwortung gezeigt, fand Katty, indem er, als ihr Vater finanziell nicht mehr ein noch aus wusste, angeboten hatte, sie auf seinen Hof zu holen. Katty erinnerte sich daran, wie ihr Vater mit ihr darüber gesprochen hatte. Sie war erst dreizehn gewesen und hatte gerade ihre Mutter verloren. Sie hatte sich sehr erwachsen gefühlt, als ihr Vater so ernst mit ihr sprach, und nur heimlich geweint, um ihm nicht zusätzlich Kummer zu bereiten. Als sie mit Heinrich auf den Tellemannshof gefahren war, hatte sie sich wider Erwarten sofort wohlgefühlt. Die erste Frau Hegmann hatte noch gelebt, es war 1923 und Theodor ein gutes Jahr alt gewesen. Sie hatte das Baby auf Anhieb in ihr Herz geschlossen und viel mit ihm gespielt, denn Frau Hegmann, eine zarte, beinahe ausgemergelte Frau, hatte sich bis dahin nicht von Geburt und Stillzeit erholt.
Katty ging vormittags zur Schule und lernte am Nachmittag von den Frauen auf dem Hof, wie man einen Haushalt führt. Einmal nahm Heinrich sie sogar zu einer Verbandssitzung mit. Katty wusste nicht mehr, worum es gegangen war. Sie konnte sich nur erinnern, dass sie Heinrich schon damals dafür bewundert hatte, wie überzeugend er sprechen und auftreten konnte und wie alle anderen Bauern ihm recht gaben. Das erste Mal durfte
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