Wir sind doch Schwestern
sie nur wenige Monate auf dem Hof bleiben.Als sich Frau Hegmann wieder erholt hatte, schickte sie Katty weg mit der Begründung, sie wolle sich von nun an selbst um Theodor kümmern. Vielleicht hatte sie auch nur Sorge, dass ein so junges Mädchen auf dem Hof eine ständige Versuchung für die Knechte darstellen könnte. Katty schmunzelte heute noch bei dem Gedanken, aber damals waren die Menschen auf den Höfen eben besonders züchtig gewesen. Etwa zehn Jahre später war Frau Hegmann erneut schwanger geworden. Die Hebamme des Dorfes hatte ihr später erzählt, wie entsetzlich das Ende der Frau gewesen war. Nach einer schwierigen Schwangerschaft war sie geholt worden, als die Fruchtblase geplatzt war. Sie hatte sofort erkannt, dass das Baby falsch herum im Bauch lag. Stundenlang hatten sich die Wehen hingezogen, und als das Kind endlich herausgepresst wurde, sah sie die Nabelschnur um seinen Hals gewickelt.
Die Hebamme hatte es nicht übers Herz gebracht, Frau Hegmann sofort die traurige Wahrheit zu sagen. Deshalb hatte sie den kleinen Körper gewaschen, in eine Decke gehüllt und der Mutter in den Arm gelegt, in der Hoffnung, diese würde, von der Geburt und vom Fieber geschwächt, den Tod des Kindes nicht sofort bemerken. Doch noch ehe sie das Zimmer verlassen hatte, um Medizin für Frau Hegmann zu besorgen, war ein markerschütternder Schrei im ganzen Haus zu hören gewesen. Neun Tage nach ihrer Tochter hatte dann auch Heinrichs Frau ihren letzten Atemzug getan und ihn als Witwer und Theodor als Halbwaisen zurückgelassen.
All das hatte sich knapp zwei Wochen vor Weihnachten 1934 zugetragen. Und noch vor Silvester hatte Heinrich Katty wieder nach Wardt geholt. Katty war inzwischen erwachsen, vierundzwanzig Jahre alt, und hatte auf einem großen Nachbarhof ihre Ausbildung in Landwirtschaft und Hauswirtschaft abgeschlossen. Als Heinrich sie fragte, ob sie seine Wirtschafterin und Ersatzmutter für Theodor sein wolle, zögerte sie nichteine Sekunde. Im Januar zog sie, bepackt mit zwei Koffern, auf dem Tellemannshof ein – und blieb für immer.
Seit diesem Tag war sie hier zu Hause. Sie gehörte hierher, das hatte sie auf Anhieb gespürt und sich sofort ohne die geringste Scheu auf dem Hof bewegt und zugepackt, als wäre es ihr eigener. Genau das hatte Heinrich wohl imponiert, und so hatte er sie stets gewähren lassen.
Katty blickte auf die Uhr. Es wurde Zeit, sie musste sich umziehen, bevor die Gäste zum Kränzen kamen. Sie faltete die letzte Bettwäsche, nahm den Korb und ging in den Flur. Sie nickte Heinrichs Ölgemälde routinemäßig zu und fragte sich plötzlich, ob es Heinrich eigentlich recht wäre, dass sie Gertrud auf seinen Hof holen wollte. Aber du musst verstehen, dass ich sie bei mir haben will, sagte sie in Richtung Leinwand. Wir sind doch Schwestern.
Als sie an Gertruds Zimmer vorbeiging, hörte sie, dass Gertrud Selbstgespräche führte. Wahrscheinlich ging es um Heinrich, aber sie hatte keine Lust, zu lauschen. Sie freute sich auf das Fest und wollte es sich nicht durch weitere Diskussionen vermiesen lassen.
Schwungvoll ging Katty die Treppe hinauf, um sich schnell eine dickere Strumpfhose anzuziehen. Das Kränzen würde im Freien stattfinden und sie fürchtete, dass am Abend vom Boden her Kälte aufkommen könnte. Sie trug niemals Hosen, weil sie fand, dass sie darin unnötig dicklich wirkte, aber in den Röcken bekam sie leicht kalte Beine und zog deshalb manchmal zwei oder sogar drei Nylonstrumpfhosen übereinander. Zwei müssten heute reichen. Mein Gott, dachte sie, als sie das zweite Paar unter Stöhnen anzog, ich war auch schon gelenkiger. Vielleicht sollte sie ihre Abneigung gegen Hosen irgendwann überdenken. Eine einzige schlichte Hose hatte sie in ihrem Kleiderschrank, die zog sie genau einmal im Jahr an, zu Karneval. Und während sie sich in Gedanken vergnüglichausmalte, wie sie ihre Nachbarn mit einer Jeans überraschen könnte, sah sie, wie eine kleine, gemeine Laufmasche an ihrem Knie hochkroch. Das ist ein Zeichen, dachte sie, griff in die unterste Schublade des Schrankes und zog kurzer Hand ihre Karnevalsjeans an. Vergnügt ging sie in die Dienstbotenküche, wo einige der Nachbarn schon eingetroffen waren. Sie hatten wie üblich den hinteren Eingang benutzt, der nie abgeschlossen war, und hatten Unmengen an geschmierten Brötchen auf dem alten Tisch drapiert.
»Katty, hast du einen großen Einkochkessel für die Würstchen? Sonst brauchen wir bestimmt drei große
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