Wir sind doch Schwestern
sie beschrieben hatte. Oder war sie tatsächlich eine Gefahr für sich und andere, wenn sie in Xanten wohnen blieb? Nur, wo sollte sie denn hin? Auf dem Tellemannshof war sie zwar bei ihrer Schwester, aber ihr gelang es einfach nicht, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Die alten Fragen brannten hier besonders. Was wäre gewesen, wenn sie Franz’ Drängen nachgegeben hätte? Wenn sie sofort geheiratet hätten oder wenn sie gegen jede Konvention von ihm schwanger geworden wäre? Hätte Franz als werdender Vater möglicherweise nach Hause kommen dürfen? Wäre er dann nicht gestorben? Trug sie in Wahrheit mit ihrem strikten Anstand eine Mitschuld an Franz’ Tod? Nein. Unsinn. Schuld daran war einzig und allein sein Bruder. Er hatte Franz in den Krieg geschickt. Und das nur, weil der sich in ein armes Mädchen verliebt hatte. Vielleicht wäre sie ein glücklicherer Mensch geworden, wenn sie ihren Hass auf Heinrich in den Griff bekommen hätte. Aber dafür war es nun zu spät. »Hätt’ der Hund nicht geschissen, hätt’ er den Hasen gehabt«, sagte man am Niederrhein. Ihr Leben war gelebt und vorbei, sich über »hätte« und »wenn« Gedanken zu machen, war müßig. Aber vielleicht könnte sie daran arbeiten, milder zu werden, und sich dadurch wenigstens noch die letzten Monate ihres Lebens erleichtern? Es war bloß nicht leicht, sich von einem Gefühl, selbst von einem schlechten, zu verabschieden, das man seit achtzig Jahren als Narbe auf der Seele trug.
Sie hörte Katty und Paula vor der Tür tuscheln. Offensichtlich glaubten sie, Gertrud sei eingeschlafen.
»Sie hat den Arzt verprügelt, Paula, da gibt es nichts schönzureden.« Katty hörte sich immer noch empört an. »Na ja«, lachte Paula, »ein kräftiger Mann von fünfundfünfzig wird sich ja wohl kaum von einer entkräfteten Hundertjährigen und einem Schluck Wasser umhauen lassen.«
»Das ist nicht komisch. Wenn sie so weitermacht, kommt der Arzt demnächst gar nicht mehr zu ihr.«
»Ich glaube, die Erinnerung in diesem Haus tut ihr nicht gut.«
»Da muss sie aber nun mal durch. Sie soll sich nicht so anstellen. Ich werde jedenfalls nicht zu ihr nach Xanten ziehen, nur damit sich meine liebe Frau Schwester nicht in das Haus ihres vermeintlichen Erzfeindes begeben muss. Sie wird schon bei mir wohnen müssen. Ich werde bestimmt nicht zulassen, dass sie ins Heim geht. Wenn sie sich da so benimmt wie gerade eben, wird sie die letzten Jahre ihres Lebens festgeschnallt.«
Gertrud stockte der Atem. Katty tat ja gerade so, als wäre sie verrückt geworden. Sie drehte sich auf den Rücken.
»Ich kann euch hören«, krächzte sie, so laut es ihr möglich war, »was erlaubt ihr euch, so über mich zu reden?« Katty fühlte sich anscheinend ertappt, gefolgt von Paula kam sie wieder ins Zimmer.
»Du musst die Wahrheit schon mal verkraften, Gertrud. Wenn du nicht aufhörst, so bösartig zu sein, wird das übel enden.«
»Ich soll bösartig sein? Da gab’s aber hier im Haus doch wohl andere Kaliber.« Katty sprang sofort auf die Provokation an.
»Ich kann es nicht mehr hören. Seit Jahren erzählst duimmer wieder die gleichen Lügen. Heinrich hat dir nichts getan, also lass ihn endlich in Frieden.«
»Nein, mir hat er nichts getan. Aber seinen Bruder hat er auf dem Gewissen. Und ich ziehe nicht in das Haus eines Mörders, hörst du. Schlimm genug, dass du dich hier eingenistet hast.«
»Das ist doch alles überhaupt nicht wahr. Und das weißt du auch. Heinrich konnte nichts dafür, dass sein Bruder in den Krieg ziehen musste. Alle Männer wurden damals eingezogen. Heinrich hat genauso unter dem Tod seines Bruders gelitten wie du.«
»Das stimmt nicht.« Gertrud wollte schreien, aber sie merkte, wie ihre Stimme wegbrach. »Er hat ihn geopfert, damit er mich nicht heiratet.«
»Es hat keinen Zweck.« Katty machte eine wegwerfende Geste und ging ohne ein weiteres Wort.
Gertruds Herz raste, sie atmete heftig. Auf einmal stand Paula an ihrem Bett und nahm ihre Hand. Die liebevolle Geste trieb ihr die Tränen in die Augen.
»Sie meint es doch nur gut mit dir, Gertrud.«
»Und wenn schon. Ist mir auch egal«, brummte sie.
»Es ist dir nicht egal, sonst würdest du dich nicht so aufregen. Sie liebt dich, und sie sorgt sich um dich, das darfst du nicht vergessen.«
»Warum hat sie sich nur ausgerechnet diesen Mann aussuchen müssen?«
»Weil wir froh waren, dass er sie zu sich genommen hat«, antwortete Paula und drückte ihre Hand.
»Ich war nicht
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