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Wir sind doch Schwestern

Wir sind doch Schwestern

Titel: Wir sind doch Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Gesthuysen
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in einem Eimer sammeln. Als dieser geschmolzen war, brachte er Hans das Wasser. »Ich geh zum Gottesdienst«, sagte er, »schlaf dich aus. Du hast gestern zu viel getrunken«. Nach einer Pause fügte er schnell hinzu: »Wir haben beide zu viel getrunken.«
    Er schaute Hans an, hoffte auf eine Regung, die Wohlwollen oder wenigstens Verzeihen ausdrückte, aber Hans reagierte nicht. Also ging Alfred zur Messe.
    Als er zurück in die Baracke kam, stand Hans mit einem Blatt Papier am Ofen und konnte sich anscheinend nicht entscheiden, was er damit tun wollte. Als Alfred ihn fragend anschaute, reichte er ihm Hertas Brief. Alfred las ihn, dann hielt er ihn ans Feuer.
    »Eine Frau sollte ihrem Mann zur Seite stehen. In guten wie in schlechten Tagen. Das hat sie geschworen«, empörte er sich. »Sie konnte nicht mal besonders gut kochen«, sagteHans kleinlaut und versuchte ein schiefes Grinsen. »Deswegen lebte ihre grauenhafte Mutter bei uns im Haus. Eine Katastrophe, sag ich dir.« Plötzlich sprudelte es nur so aus ihm heraus. Er erzählte, wie unglücklich er in seiner Ehe gewesen sei, wie wenig er seine Frau liebe und wie froh er sei, ja, da habe Alfred ganz recht, wie froh er sei, diesen kühlen Klotz am Bein los zu sein. Nun sei er frei, er werde in die Scheidung einwilligen und von vorne anfangen. Er lästerte sich geradezu in einen euphorischen Zustand, und Alfred wusste, dass er damit nur seinen Kummer verbergen wollte. Hans war in Wahrheit tief getroffen, und da er keine andere Möglichkeit sah, schien er entschlossen, sich mit Alfred zu trösten.
    Im Sommer wurden Gerüchte laut. Es hieß, die Polen bereiteten ihre Entlassung vor. Die Aufregung ließ die Gefangenen die brütende Hitze ertragen. Die Jahreszeiten in Südpolen waren von extremen Temperaturschwankungen geprägt. Noch im März waren es minus zehn Grad gewesen, im Juli wurden die dreißig Grad bereits täglich überschritten. In den Baracken stank es furchtbar, und die Männer, die sich noch bis vor ein paar Monaten zum Schlafen möglichst eng aneinandergedrängt hatten, um nicht zu erfrieren, verlangten nun so viel Abstand wie möglich. Auch Hans und Alfred hatten längst wieder zwei Pritschen eingenommen. Sehr zum Leidwesen von Alfred, der, je weniger Nähe er bekam, umso sehnsüchtiger an Hans hing.
    Alfred liebte, und er litt. Er war dankbar für alles, was er von Hans bekam, und sammelte jedes noch so kleine Zeichen von Zuneigung oder Zuwendung. Und dennoch ahnte er, dass er Hans verlieren würde. Im Herbst bestätigten die Wachen, dass die Deutschen den nächsten Winter wohl zu Hause verbringen würden, und Alfred wurde darüber fast trübsinnig.
    Es war der Tag vor Allerheiligen, als das Tor geöffnet wurde, sie allesamt hindurchmarschierten und die Gefangenschaft hinter sich ließen.

    Alfred und Hans hatten noch ein gemeinsames Stück Wegs vor sich. »Ich hole meine Frau zurück«, hatte Hans ihm mitgeteilt, als sie in den Zug stiegen. Seitdem saß Alfred stumm da und brachte kein Wort mehr heraus. Er wusste, dass er es nicht würde verhindern können und dass er Hans niemals wiedersehen würde.
    Alfred nahm Hans in den Arm, als sie in Münster am Bahnhof ausstiegen. Er zog mit beiden Händen sein Gesicht zu sich und wollte ihn zum Abschied küssen.
    Doch Hans stieß ihn mit Wucht weg und verzog das Gesicht.
    »Bist du verrückt geworden? Ich bin doch nicht schwul!«

Der 100. Geburtstag – Samstag
Es geschah im Nachbarhaus
    Die Digitalanzeige des kleinen Weckers leuchtete hell und klar. 1:12 zeigte sie an, der Doppelpunkt blinkte rhythmisch. Das ist dann wohl das Ende der Nacht, dachte Gertrud. Irgendetwas musste sie geweckt haben. Vielleicht das Knarzen der alten Treppe. Vermutlich war Katty gerade erst ins Bett gegangen. Diese Nachteule, schimpfte sie in Gedanken. Gertrud konnte bereits seit Jahren nicht mehr gut schlafen und hatte sich daran gewöhnt, nachts aufzuwachen. Meist blieb sie dann einige Stunden wach und erst, wenn im Sommer schon die ersten Sonnenstrahlen durchs Fenster lugten, schlief sie erneut ein. Eine normale Alterserscheinung, hatte der Arzt gesagt, aber das konnte Gertrud wenig trösten. Denn eigentlich konnte man mit diesen wachen Stunden in der Nacht nicht viel anfangen. Wenn sie versuchte zu lesen, nickte sie immer wieder für wenige Minuten über dem Buch ein, zu kurz, um sich zu erholen, zu lang, um in eine Geschichte einzutauchen. Irgendwann hatte sie beschlossen, diesen Zustand zu akzeptieren, und sich zu Hause in

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