Wir sind doch Schwestern
Sie wuschen sich mit einer Seife, die gerade gut genug war, um den Dreck auf dem ganzen Körper zu verteilen. Aber Alfred war es egal. Seine Schultern schmerzten, und er wollte nur noch liegen. Am Nachmittag wurde er wach und wusste, es würde wieder von vorne losgehen. Aber er beschwerte sich nicht. Die Bergarbeiter bekamen mehr zu essen, und langsam entwickeltesich Kameradschaft unter Tage, und Alfred lernte sogar ein paar Brocken Polnisch.
Im Lager teilten sich inzwischen zwei Männer eine Pritsche. Man versuchte, so viel Körperwärme wie möglich voneinander zu bekommen. Oft wachten Alfred und Hans am Nachmittag eng umschlungen auf. Keiner dachte sich etwas dabei, jeder wollte irgendwie überleben. Und doch gefiel es Alfred. Wenn die Männer am frühen Abend beieinander saßen, die einen vor Beginn der Schicht, die anderen schon fertig, erzählten sie sich Geschichten von zu Hause, von ihren Familien, von Frauen. Einer berichtete von wilden Erlebnissen mit den Frauen in seiner Heimatstadt. Er kam aus Berlin, und dort waren die späten Zwanzigerjahre dem Vernehmen nach eine einzige Frivolität gewesen. Er erzählte von dem Leben in Bars und von Prostituierten. Und auch wenn wahrscheinlich nur wenig von dem stimmte, was er da großspurig berichtete, so hingen die Männer doch an seinen Lippen. Keiner von ihnen hatte in den letzten anderthalb Jahren eine Frau angefasst oder gesehen.
Die meisten befriedigten sich mehr oder weniger heimlich auf ihren Holzpritschen. Niemand störte sich daran. Und selbst einige Paare hatten sich angeblich schon unter den Männern gebildet. Man sprach flüsternd darüber, aber keiner hatte ein Interesse daran, diesen Gerüchten nachzugehen. Jeder von ihnen hatte mit den eigenen Bedürfnissen zu kämpfen, und wenn das neben Hunger, Durst und Erschöpfung die Lust auf einen menschlichen Körper bedeutete, dann war das eben so.
Nur Alfred fühlte sich durch solche Geschichten aufgewühlt. Er hatte längst gemerkt, dass er sich zu Hans mehr hingezogen fühlte, als er sollte. Wenn sie unter Tage arbeiteten, betrachtete er den Körper des Jüngeren mit einer Bewunderung, die eigentlich einem weiblichen Körper hätte gelten sollen.Wenn sie sich aneinanderkuschelten, erregte es ihn. Und immer häufiger fragte er sich, ob es Hans vielleicht ähnlich erging.
Etwa einmal im Monat kam Post ins Lager. Alfred bekam Briefe von Paula und den Kindern. Paula munterte ihn auf, sie schrieb von dem, was die Nachbarn trieben, von ihren Schülern und von ihren Geschwistern. Dabei traf sie einen Ton, der Alfred und Hans, dem er die Briefe vorlas, oft laut loslachen ließ. Sie hatte Witz, jegliche Sentimentalität allerdings fehlte ihr und vor allem ihren Briefen. Anfangs hatte er gehofft, seine Frau würde voller Sehnsucht schreiben, später freute Alfred sich an dem, was er hatte. Auch Hans bekam Briefe von seiner Frau. Aber seltener. Herta war nicht gerade begnadet mit Füller und Papier, ihre Sätze waren kurz und knapp. Sie hatten etwas nüchtern Pragmatisches, und alle ihre Briefe endeten mit dem Satz »Komm bald nach Hause«. Es klang wie ein bedrohlicher Befehl, man konnte sich ein »Sonst passiert etwas Schlimmes« dazudenken. Eines Tages war es so weit, es war inzwischen kurz vor Weihnachten.
Fast alle Gefangenen bekamen Pakete von zu Hause, was von ihren polnischen Bewachern geduldet wurde. In einem so katholischen Land durften zu diesem besonderen Fest alle glücklich sein, sogar die Deutschen in Sosnowitz. In den Paketen war fast immer das Gleiche: selbst gebackene Plätzchen, und wer besonderen Dusel hatte, bekam noch ein paar selbst gestrickte Socken oder Handschuhe dazu. Hans hatte ein besonders schönes Paket erhalten. Walnüsse waren darin, zwei Paar Socken, Spitzbuben und Spritzgebäck und ein, für Hertas Verhältnisse, sehr langer Brief. Herta beschrieb ihm ohne übermäßige Emotionen, wie sie jetzt lebte. Sie hatte das Ruhrgebiet verlassen und war zu Verwandten nach Telgte ins Münsterland gezogen. Dort hatte sie auf einem großen Bauernhof angefangen. Als Mädchen für alles. Und wenn sie »alles« schrieb, sowar wenige Zeilen später klar, dass »alles« auch wirklich »alles« meinte. Der Bauer gefiel ihr, sie gefiel dem Bauern, und er hatte um Hertas Hand angehalten. Hans störte bei dem jungen Glück, und so bat Herta ihn um die Scheidung. Sie könne schließlich nicht ihr Leben an einen Mann verschleudern, von dem sie nicht wisse, ob sie ihn jemals wiedersehe. Offensichtlich
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