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Wir sind doch Schwestern

Wir sind doch Schwestern

Titel: Wir sind doch Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Gesthuysen
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hatte sich Herta tatsächlich so ihre Gedanken gemacht. Und mitleidlos führte sie weiter aus, dass Hans jederzeit in der Grube erschlagen werden könne. Es sei außerdem nicht sicher, dass er diesen Winter überstehe, auch wenn sie ihm das natürlich von Herzen wünsche. Und sie, Herta, zöge es vor, einen netten Bauern an ihrer Seite zu haben, mit dem kleinen Makel, eine geschiedene Frau zu sein, als irgendwann eine Witwe und mutterseelenallein – und das vermutlich für den Rest ihres armseligen Lebens. Sie war gewillt, die Chance, die sich ihr bot, zu ergreifen. Und mit einer Mischung aus Verzweiflung und Eiseskälte bat sie Hans inständig, sich ihr nicht in den Weg zu stellen und in die Scheidung einzuwilligen.
    Hans hatte sich über das große Paket gefreut, er hatte schlechte Scherze gemacht und lautstark von der Größe des Pakets auf andere Größen geschlossen. Den Brief hatte er wohl erst danach gelesen. Alfred fand ihn zwei Stunden später. Er kauerte an der Wand der gemeinsam genutzten Holzpritsche und brabbelte vor sich hin. Ein Speichelfaden hing ihm aus dem Mund, die Nase war verrotzt, er hatte sich erbrochen und hielt eine fast leere Flasche billigen Wodkas umklammert.
    Ein Glas von diesem hochprozentigen Zeug hätte wahrscheinlich gereicht, um einen abgemagerten, alkoholentwöhnten Mann ins Nirwana zu schießen; ein Dreiviertelliter hatte Hans anscheinend um den Verstand gebracht. Alfred nahm ihm behutsam die Flasche aus dem Arm. Irgendetwas von »Weiber« und »einzig wahrer Freund« glaubte er zu verstehen. Er legteseinen Freund ins Bett, nahm einen alten Socken, füllte ihn draußen mit Schnee und legte ihn dem jammernden Hans auf die Stirn. Der fing nun bitterlich an zu weinen und klammerte sich an Alfred. Alfred ließ es geschehen. Er setzte sich ebenfalls aufs Bett und zog Hans an seine Brust. Hans schaute seinen Retter mit glasigen Augen an, zog sich ungelenk an ihm hoch, bis seine Lippen Alfreds Hals berührten, und küsste ihn. Sein Mund wanderte weiter und suchte Alfreds Mund. Alfred war starr vor Schreck. Er kämpfte mit sich, mit seiner Leidenschaft und allem, was ihm heilig war. Er durfte nicht. Doch das Gefühl war stärker als sein Gewissen. Er trank einen ordentlichen Schluck von dem übrig gebliebenen Wodka, als könnte der ihm später als Entschuldigung dienen, und erwiderte den Kuss.
    Es war berauschend. Alfreds Herz pochte so heftig, dass er um sich herum nichts mehr wahrnahm. Waren noch andere Männer im Raum? Er wusste es nicht. Eine große Welle überspülte ihn, vernebelte ihm das Hirn, und erst als die Leidenschaft abebbte und er sich bewusst wurde, dass er nackt und erschöpft neben einem anderen Mann lag, wurde ihm schlecht.
    Alfred stand auf, sein Magen rebellierte. Er entdeckte die angebrochene Flasche Wodka und hob sie an den Mund. Nach einem kräftigen Schluck war ihm wohler.
    Er horchte in sich hinein. Da war etwas wie Scham. Was hatte er bloß getan. Und was würde Hans von ihm denken. Vermutlich würde er sich angeekelt abwenden, sich missbraucht vorkommen und mit seinem Freund nie wieder ein Wort sprechen. Natürlich hatte Hans angefangen, aber er war betrunken und unglücklich gewesen und er, Alfred, hätte den Freund abhalten müssen. Schuld empfand er nicht, auch keine Reue. Eigentlich fühlte er sich richtig gut, musste er zugeben. Das war vielleicht die schlimmste Erkenntnis. Er fühlte sich sogar so gut, dass er sich wünschte, es wäre nicht nur ein Ausrutscher gewesen. Zur Beruhigung trank er noch einen Schluck,machte schließlich die Flasche leer und schlief beseelt und aufgewühlt ein.
    Ein paar Stunden später wachte er auf. Hans stöhnte neben ihm und litt offenbar höllisch unter den Nachwirkungen des Wodkas. Es war der erste Weihnachtstag, sie hatten frei. Keine Kohle, keine Grube, kein Dreck. Die Polen hatten sogar einen Priester organisiert, der draußen auf dem Appellhof eine Messe abhalten sollte.
    Alfred wollte unbedingt dorthin. Er hatte das dringende Bedürfnis, zu beichten. Nicht, dass er dazu die Gelegenheit gehabt hätte, aber eine Messe und ein Zwiegespräch mit Gott reichten ihm im Grunde aus. Vielleicht wollte er auch einfach nur den Moment hinauszögern, in dem er mit Hans über die letzte Nacht würde reden müssen. Der stöhnte erneut, er habe Kopfschmerzen und Durst.
    »Ich besorge dir Wasser«, sagte Alfred und war schon aufgesprungen. Irgendjemand hatte sich um Feuer in der Baracke gekümmert, und so musste Alfred nur etwas Schnee

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