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Wir sind doch Schwestern

Wir sind doch Schwestern

Titel: Wir sind doch Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Gesthuysen
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eher ein sanfter Mensch. Er hatte Blumen geliebt, eigentlich hatte er alles geliebt, was lebte, und er hätte niemals ein Leben nehmen können, schon gar nicht sein eigenes. Paula hatte den Eindruck gehabt, Alfred wollte eine öffentliche Selbstgeißelung inszenieren, um keine Zweifel an seinen Schuldgefühlen aufkommen zu lassen. Angst um ihn hatte sie nicht gehabt, und als er erkannt hatte, dass seine Selbstmordversuche ihre Wirkung verfehlten, ließ er es sein. Die Episode am Strang war die letzte gewesen, danach hatte Alfred den dramatischen Fehltritt mit Paulas Cousin dem Vergessen anheimfallen lassen. Und später, als sie beide in gewisser Weise wieder zueinandergefunden hatten, da hatte er ihr geschworen, dass ihm etwas Ähnliches nie wieder passieren würde.
    Paula lächelte nachsichtig. Sie hatte ihm damals geglaubt. Und vermutlich hatte Alfred es selbst geglaubt. Sechs Jahre lang war alles gut gegangen. Dann hatte plötzlich die Polizei vor ihrer Tür gestanden.

13. September 1954
Flucht vor der Wahrheit
    Es war ein verlockender Spätsommertag, ein Montag. Paula genoss die Nachmittagssonne im Garten. An ihrer Lebenssituation hatte sich wenig geändert, nur Ria, die Witwe ihres Cousins, war samt Kind ausgezogen und lebte jetzt in Wardt, gar nicht weit von Heinrich und Katty entfernt.
    Paula hatte sich an diesem Nachmittag einen Eimer Pflaumen aus dem Keller geholt, um Marmelade einzukochen. Mit Eimer, Einmachgläsern, Zucker und Messer bewaffnet, ging sie zu dem kleinen Tischchen im Halbschatten vor der Küchentür und ließ sich dort nieder. Sie halbierte die Pflaumen, holte die Steine heraus und beschloss, dass etwa jede dritte Pflaume zu hübsch für Marmelade war. Die aß sie gleich. So füllte sich ihr Magen und ihre Laune hätte nicht besser sein können.
    Schon von Weitem sah sie die beiden uniformierten Herren und ahnte, dass der Tag anders enden würde als gehofft.
    Den Wachtmeister erkannte sie zuerst, er war schon einmal auf dem Hof gewesen. Damals, als Peter sich erschossen hatte. Er war der Einzige im Dorf, der wusste, dass Peter sich umgebracht hatte und er nicht etwa in eine Heckenschere gefallen war. Aber er hatte dichtgehalten. Zumindest hatte niemand die Familie jemals auf einen Selbstmord angesprochen, zum Glück, sonst hätten sie Peter nicht einmal begraben können.Der Priester hätte nicht zugelassen, dass ein Selbstmörder in geweihte Erde einging. Sie hätten ihren Cousin, der mit ihnen zusammen aufgewachsen war, vor dem Dorf wie einen Hund begraben müssen, und die Dorfbewohner hätten keine Ruhe gegeben, bevor nicht alles aufgeklärt gewesen wäre. Sie hatten den Wachtmeister damals inständig gebeten, Stillschweigen zu bewahren, ihm erklärt, dass Peter durch die vielen Toten im Krieg trübsinnig geworden, er aber ein gläubiger Christ gewesen sei, der dem Teufel nicht habe standhalten können. Ja, ein Sünder, aber er, der Wachtmeister, möge doch keinen Verdammten aus ihm machen. So hatten sie auf den Polizisten eingeredet, und der hatte ein Einsehen gezeigt.
    Sein Erscheinen kann unmöglich mit den Ereignissen damals zusammenhängen, versuchte Paula sich zu beruhigen.
    »Wir suchen Ihren Gatten, Frau Jorges.«
    »Alfred? Ist ihm etwas zugestoßen?« Paula wurde heiß. Sie erkannte diesen leichten Schwindel, der sie immer erfasste, wenn schlechte Nachrichten in der Luft lagen. Sie hatte für den Bruchteil einer Sekunde das Gefühl, ins Bodenlose zu fallen. Dann fasste sie sich wieder, riss sich zusammen und blickte den Wachtmeister fest an.
    »Was kann mein Mann für Sie tun?«
    »Wir müssen ihn festnehmen.«
    »Was müssen Sie?« Paula wollte Zeit schinden. In Wahrheit wusste sie, was los war. Es war die Situation eingetreten, vor der sie sich sechs Jahre lang gefürchtet hatte. Alfred würde ins Gefängnis gehen. Er würde büßen für die Sünden, die sie beide, Alfred und Paula, verdrängt hatten, und all ihre Ausreden, sie habe es der Familie zuliebe getan, das wusste sie in diesem Moment, wären nichtig. Sie war aus Eigennutz mit Alfred zusammengeblieben. Und aus Bequemlichkeit. Nun bekäme sie die Quittung.
    Hatte der Wachtmeister von sich aus Lunte gerochen, oderwar Alfred denunziert worden? Immerhin war der Paragraf 175 derzeit regelrecht in Mode. Man hörte aus den Städten von Verhaftungswellen gegen die Schwulen. Zu Recht, dachte Paula. Natürlich war dieses Verhalten wider die Natur und gegen Gottes Willen, andererseits galt all das nicht für ihren Alfred. Ihr

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