Wir sind doch Schwestern
wehren. Der graue Star war inzwischen nicht mehr zu operieren, ihr Gehör ließ merklich nach, und allzu sicher stand sie auchnicht mehr auf den Beinen. Für achtundneunzig war sie allerdings noch gut dabei, versicherten ihr ihre Kinder meist eifrig, also stemmte sie jetzt, nur für ihr eigenes Vergnügen, die Hände in die Hüften und wiegte sich wie ein Model auf dem Laufsteg. Kokett, liebe Paula, dachte sie, über sich selbst spöttelnd.
Was Alter und Tod anging, so hatte sie nur Angst davor, dass ihr Blut irgendwann nicht mehr die Kraft hätte, den Kopf zu versorgen. Und dumpf dahindämmern, das wollte sie auf keinen Fall. Doch der liebe Gott hatte ihr ein unglaublich langes Leben beschert, da würde sie jetzt um die letzten Jahre und Stunden nicht feilschen. Sie hatte eine größere Gelassenheit als Gertrud, da war sie sich sicher. Ihre ältere Schwester war sogar beim Sterben noch ehrgeizig. Sie hatte bereits ein biblisches Alter erreicht, würde es aber unter hundertundzehn auf keinen Fall tun, dachte Paula, und stellte sich vor, wie Gertrud den Sensenmann mit einem Schrubber in die Flucht schlug.
»Worüber lachst du jetzt schon wieder?«, fragte Katty, die unglaublich flink einen Eimer voller Kartoffeln schälte. Sie benutzte dazu ein stark abgenutztes Messer, das sie stets mit den Worten »Das hat bereits so viele Kartoffeln geschnitten, dass es praktischerweise selbst die Form einer Kartoffel angenommen hat« verteidigte, wenn man ihr nahelegte, sich endlich ein schärferes Modell zuzulegen.
»Ich stelle mir gerade vor, wie Gertrud ein Skelett mit Umhang verprügelt, ungefähr so wie gestern den armen Doktor Duscher.«
Katty schaute sie verstört an. So etwas amüsierte die jüngere Schwester nicht im Mindesten, das hätte Paula sich denken können. Genau wie Gertrud ging auch Katty davon aus, dass das ewige Leben auf der Erde stattfinden würde. Und diese Vorstellung nahm sie ebenso für alle ihre Lieben in Anspruch.Sie verweigerte dem Tod und seinem Vorboten jegliche Aufmerksamkeit, strafte beide mit unerschütterlicher Ignoranz und ging mit ihren vierundachtzig Jahren deshalb so oft wie möglich zu Feierlichkeiten, welche sie grundsätzlich als Letzte verließ. Wenn im Dorf Kirmes oder Karneval war, musste man Katty mit der Kehrmaschine aus dem Festzelt fegen, hatte Paula manchmal den Eindruck. Ihre Schwester hatte trotz ihres Alters ein beachtliches Stehvermögen. Dementsprechend erschien es ihr wohl völlig selbstverständlich, dass Gertrud ihrer aller Zukunft besprechen wollte, ein Ende war ja nicht absehbar.
Ungeachtet aller Streitereien würde Katty Gertruds Tod nur schwer verkraften können, wusste Paula. Sie liebte Gertrud aufrichtig und verzweifelte daran, dass diese ihre Gefühle immer noch in mütterliche Strenge hüllte.
Vielleicht ist es leichter, solche Dinge zu sehen, wenn man fast blind ist, mutmaßte Paula und fragte sich, ob es vernünftig wäre, beide Schwestern an einen Tisch zu platzieren und sich aussprechen zu lassen. Das Thema Heinrich Hegmann hatte immer schon Anlass für Auseinandersetzungen gegeben, aber so heftig wie in diesen Tagen waren die beiden seit Langem nicht mehr aneinandergeraten. Vielleicht waren sie nervös wegen der Geburtstagsfeier oder es lag an dem immer noch nicht ausdiskutierten Einzug von Gertrud auf dem Tellemannshof, dass sowohl Gertrud als auch Katty im Moment bei der kleinsten Kleinigkeit in die Luft gingen wie ein HB -Männchen.
»Was hat denn dazu geführt, dass sich ihre Laune auf einmal so gebessert hat?«, fragte Katty jetzt.
»Schwester Schlichters Betriebsgeheimnis!«, antwortete Paula mit einem Augenzwinkern.
»Hast du ihr gesagt, dass sie sich so nicht benehmen darf? Ich war schon drauf und dran, die Überraschung heute Abendabzusagen. Und wie hätte ich dann dagestanden?«, Katty begann sich erneut aufzuregen und Paula ärgerte sich über Kattys Selbstbezogenheit.
»Nun lass mal gut sein. Es geht weder heute noch morgen in erster Linie um dich. Es geht um unsere Jubilarin, und das ist womöglich auch ein Stimmungsaufheller. Jetzt gerade ist nämlich der Journalist wieder da, und unsere Gertrud doziert über die vergangenen Jahrhunderte. Das scheint ihr sehr viel Freude zu bereiten.«
»Ach richtig«, murmelte Katty und schien nicht zu begreifen, was Paula hatte sagen wollen, »der Herr Wollentarski ist ja heute wieder da. Wer hat ihm denn die Türe geöffnet? Ich hab’s gar nicht läuten hören. Ich mache schnell ein Tablett
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