Wir sind doch Schwestern
hoffte, dass Gertrud nach ihrem Geständnis darüber nachdenken würde, dass auch ihr nicht mehr viel Zeit blieb, um sich mit dem Schicksal auszusöhnen. Verzeihen war eine Grundvoraussetzung dafür, anderen verzeihen, aber auch sich selbst. Paula jedenfalls hatte es so erlebt.
Alfred hatte damals niemanden angefasst, er hatte nur beobachtet. Also konnte man ihm nur die Verderbtheit der Gedanken und seine Triebhaftigkeit nachweisen. Aber das reichte,um ihn nach einem kurzen Prozess ins Gefängnis nach Kleve zu schicken. Für achtzehn Monate wurde er eingesperrt, eine Zeit, von der er sich nie mehr erholen sollte. Paula ließ sich scheiden und kündigte ihre Anstellung, sie wollte die Enge des Dorfes und die mitleidigen Blicke hinter sich lassen. Manchmal hatten sogar Mütter mit ihren Kindern die Straßenseite gewechselt, wenn sie ihnen entgegengekommen war. Als habe sie eine ansteckende Krankheit. Paula fiel es nicht schwer, zu gehen.
Sie ging an die Mädchenberufsschule in Duisburg-Homburg, denn hier war Gertrud inzwischen Rektorin geworden. Als solche konnte sie Paula problemlos als Sportlehrerin einstellen, und eine Weile teilten sie sich sogar wieder eine Wohnung, aber niemals mehr sprachen die beiden über Alfred. Nachdem er verhaftet worden war, hatten Katty und Gertrud, die sie sechs Jahre zuvor noch beschworen hatten, bei Alfred zu bleiben, ihre Meinung ins Gegenteil verkehrt. Alfred war aus der Familie und den Gedanken verbannt worden. Dass Paula mit ihren Gefühlen bei dieser gedanklichen Volte nicht mitkam, schien die Schwestern nicht zu interessieren. Paula behielt deshalb ihre Gefühle fortan für sich. Sie fühlte sich schuldig und fragte sich immer wieder, ob sie Alfred sein Schicksal hätte ersparen können, wenn sie die Scheidung verweigert hätte, wenn sie geschworen hätte, dass alles ein Missverständnis gewesen war. Ob sie ihn vielleicht vor dem Gefängnis hätte bewahren können. Aber sie hatte nicht zu Alfred gestanden, sie erwähnte ihn vor ihren Schwestern nicht mal mehr.
Natürlich besuchte sie ihn niemals in Kleve, aber sie schrieb ihm heimlich und, damit Gertrud und Katty davon nichts mitbekamen, ließ sie sich seine Antworten an ein Postfach schicken. Alfred erging es schlecht im Gefängnis. Nach der Kriegsgefangenschaft konnte er es kaum ertragen, schon wieder auf Freiheit zu verzichten. Die Lunge machte ihm zu schaffen, weil es ständig zog und er sich häufig erkältete. Aber das Schlimmstewar für ihn, dass er als Homosexueller brutalem Spott und Übergriffen ausgeliefert war. In den ersten Monaten war er mehrfach verprügelt worden, die Wärter hatten zugesehen und gelacht. Jeder konnte an ihm seine Launen auslassen und bekam dafür noch Applaus. Durch die körperlichen und seelischen Grausamkeiten zermürbt, wurde Alfred schwermütig und schrieb in seinen Briefen von dem Wunsch, zu sterben.
Als er nach eineinhalb Jahren aus dem Gefängnis entlassen wurde, war er ein Wrack, abgemagert bis auf die Knochen, die Nase krumm und schief im Gesicht, weil sie mehrfach gebrochen worden war, ohne dass sich Ärzte um ihn gekümmert hätten, und von dem schlechten Essen war sein Magen völlig übersäuert. Außer Milchbrei behielt er kaum etwas bei sich. In diesem Zustand zog Alfred schließlich nach Berlin. Dort, so hatte er gehört, hatten die Menschen andere Sorgen, als sich über Homosexuelle aufzuregen. Es hieß, man lasse einander dort in Ruhe. Für die letzten Jahre seines Lebens hatte er sich vorgenommen, seiner Leidenschaft nachzugehen: nicht Männern, sondern Blumen. Er hatte sich in einem Floristikgeschäft anstellen lassen und noch ein paar Jahre gelebt, bis er mit neunundsechzig Jahren an Lungenkrebs gestorben war. Paula hatte ihn nie mehr wiedergesehen. Ein Mann hatte ihr nach seinem Tod Alfreds Tagebücher zukommen lassen. Sie hatte nicht gefragt, ob der Mann ein Freund gewesen war oder Alfreds Partner. Es war ihr egal gewesen.
Dreißig Jahre war das nun her, und es hatte lange gedauert, bis sie sich ihre Feigheit verziehen hatte. Doch seitdem ging es ihr besser. Paula tastete sich durch den Flur. Als sie im Vorderhaus angekommen war, hörte sie, dass mehrere Gäste anwesend waren. Herr Wollentarski war nicht allein gekommen. Sie konnte außerdem die Stimme ihrer Nichte aus der Nachbarschaft ausmachen.
»Sie müssen eine Menge Veränderungen mitgemacht haben, Frau Franken«, hörte sie den Journalisten jetzt sagen. Ja, dachte Paula, wir haben eine Menge mitgemacht, wäre
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