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Wir sind doch Schwestern

Wir sind doch Schwestern

Titel: Wir sind doch Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Gesthuysen
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über sie hergefallen und hätte sie anschließend ermordet. Ihr Mann ist ein widerlicher Lüstling. Wussten Sie das, Frau Jorges? Sollen wir Sie gleich mitnehmen, gehören Sie auch ins Gefängnis?«
    Paula versuchte, Alfred in die Augen zu schauen. Doch der sah nur zu Boden, und Paula bemerkte eine Träne, die ihm die Wange herunterlief. Sie wusste, dass der Vorwurf wahr war. Angegriffen hatte Alfred sicherlich keinen der Jungen, dazu war er weder stark noch mutig genug, aber es reichte schon, wenn er sich die nackten Schüler in der Umkleidekabine der Turnhalle angeschaut hatte und dabei ertappt worden war. Alfred war schwach. Er hatte keine Disziplin. Paula wurde bewusst, dass sie Alfreds Keuschheitsversprechen nie hätte Glauben schenken dürfen. Sie hatte nicht darüber nachdenken, ihr Leben nicht von Grund auf neu gestalten wollen. Sie blickte Alfred lange an, dann drehte sie sich um und ging, ohne ein Wort zu sagen, ins Haus.
    Sie konnte ihren Mann nicht mehr retten, er würde ins Gefängnis gehen. Der Paragraf 175 wurde vor allem im katholischen Rheinland mit besonderer Beflissenheit angewandt. Ein Richter aus Bonn hatte gerade erst eine nochmalige Verschärfung der Strafe gefordert. Paula, die wegen Alfred bei diesem Thema stets hellhörig wurde, hatte in der Zeitung gelesen, dass sich in Frankfurt mehrere 175er aus Angst vor dem Mob umgebracht hatten. In dieser Welt war kein Platz für Alfred.
    Paula hörte, wie die Polizisten ihn vor dem Haus beschimpften, aber die Stimmen wurden leiser und entfernten sich. Sie ging die Treppe hinauf ins Schlafzimmer, setzte sich aufs Bett und vergrub ihr Gesicht in beiden Händen. Nach einer Weile schlug sie ein Kreuz. Sie erkannte, dass dieser Lebensabschnitt beendet war, ein neuer würde beginnen.

Der 100. Geburtstag – Samstag
Das Ende eines Glücklosen
    Paula warf die letzte geschälte Kartoffel in den randvollen Eimer mit Wasser. Es waren bestimmt zehn Kilo, die Katty für das Fest vorbereitet hatte. Sie ging zum Herd und hob den Deckel von dem großen Bräter, um eine Riechprobe zu nehmen. Kochen konnte Katty, das musste man ihr lassen. Es roch vorzüglich, und Paula lief das Wasser im Munde zusammen.
    Nach dem Krach der beiden Schwestern war sie zwar mit Gertrud noch am Frühstückstisch sitzen geblieben. Gegessen hatten sie nichts mehr, stattdessen sehr intensiv miteinander geredet. Zwischen Gertrud und ihr waren die Gespräche fast immer fruchtbar, Katty aber blieb für Gertrud das ungezogene Kind, das sie einst großgezogen hatte, während Paula Respekt genoss und gleichwertig behandelt wurde. Und diesen Respekt hatte Paula heute Morgen beim Frühstück zu nutzen versucht. Sie hatte die Taktik angewendet, die im Dreiecksverhältnis der Schwestern meist funktionierte: Sie hatte Gertruds Missbilligung auf sich gezogen und damit Katty aus der Schusslinie gebracht. Sie hatte Gertrud erklärt, dass ihnen allen vielleicht nicht mehr so viel Zeit bliebe, wie ihnen lieb wäre, und sie deshalb endlich reinen Tisch machen wolle. Also hatte sie auch ihr gestanden, dass sie bis an sein Lebensende Kontakt zu Alfred gepflegt hatte. Doch Gertrud hatte völlig anders reagiertals Katty und damit auch anders, als Paula erwartet hatte. Sie war nicht aufbrausend geworden, sie hatte nur gefragt: »Warum?«
    Und Paula hatte geantwortet, dass er auch nur ein Mensch gewesen sei, der einen furchtbaren Fehler gemacht habe. Ein Mensch eben.
    »Das kann nicht alles entschuldigen«, hatte Gertrud gekontert, »manche Fehler kann man nicht wieder gutmachen.«
    Paula hatte ihr recht gegeben, aber beharrt, es mache auch niemanden wieder lebendig, wenn man Hass kultiviere. Sie hatte Gertrud erzählt, wie sehr ihr Leben dadurch erleichtert worden war, dass sie Alfred hatte verzeihen können. Offenbar hatte sie dabei den richtigen Ton getroffen, denn Gertruds Gesichtsausdruck war deutlich milder geworden, und ihre Laune schien sich gebessert zu haben.
    Paula nahm einen kleinen Löffel aus der Schublade und konnte nicht widerstehen. Sie musste etwas von der Bratensoße probieren. Köstlich, dachte sie und überlegte einen Moment, ob sie den abgeleckten Löffel noch einmal in den Topf tauchen sollte. Sie ließ davon ab und ging aus der hellen Küche hinaus in den dunklen Flur. Treppen steigen war für sie kein Problem, aber dieser düstere steile Gang war wirklich nichts für alte Frauen, dachte sie seufzend und machte sich vorsichtig mit einer Hand an der Wand auf den Weg zu den anderen.
    Paula

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