Wir sind doch Schwestern
Heinrich Hegmann von seinen Eltern übernahm, als er zwanzig Jahre alt wurde.« Katty schien nach einer bestimmten Stelle zu suchen. »Hier! Der Tellemannshof war auf den Geburtstag gut vorbereitet. Für seine Gastfreundschaft schon oft gerühmt, war auch diesmal der Empfang herzlich, ja freundschaftlich.« Sie strahlte in die Runde. »Ja, das steht da wirklich so. Und da werden wir doch morgen mal zeigen, dass wir nichts davon verlernt haben, nicht wahr?«
Wollentarski nahm Katty den Zeitungsartikel aus der Hand und vertiefte sich darin. Paula wusste, was dort alles über ihre kleine Schwester zu lesen war. Und nichts davon war übertrieben. Sie hatte es verstanden, die politischen Größen jener Zeit auf den Tellemannshof zu holen und sie vortrefflich zu bewirten. Sie war die perfekte Öffentlichkeitsarbeiterin für Heinrich Hegmann gewesen. Und der hatte es ihr gedankt. Nach seinem Tod hatte er Katty den Tellemannshof vermacht. Ob das nur Ausdruck von Dankbarkeit gewesen war? So wie sie mit Gertrud niemals über ihre Gefühle zu Alfred gesprochen hatte, so hatte Paula auch Katty niemals gefragt, ob sie Heinrich geliebt hatte. Sie hatte immer den äußeren Schein akzeptiert, und demnach war Katty die Hauswirtschafterin gewesen. Mehr nicht. Gerüchte hatte es damals genug gegeben. Es war an derZeit, befand Paula, endlich über alles zu reden, bevor jede von ihnen ihre Geschichte mit ins Grab nahm. Heute Abend würde sie Katty fragen, was damals gewesen war, vor allem in der Zeit, als sie während der großen Evakuierung allein mit Heinrich Hegmann auf dem Tellemannshof zurückgeblieben war. Paula konnte sich noch gut daran erinnern. Sie hatte die gesamte Belegschaft des Hofes in Bedburg-Hau getroffen und sich furchtbare Sorgen gemacht, als sie erfuhr, dass Katty auf dem Hof geblieben war. Ihre Schwester hatte darüber nie etwas erzählt. Das war Paula nicht ungewöhnlich erschienen, denn alle hatten nach vorne schauen wollen, niemand zurück. Doch vielleicht war es jetzt an der Zeit, Fragen zu stellen.
24. März 1945
Leiche im Keller
»Katty, sie sind da! Kommen Sie schnell. Sie sind da!«, rief Heinrich aufgeregt über den Hof.
»Wer?« Katty hoffte, dass Heinrich von ihren Geschwistern sprach. Noch immer hatte sie kein Lebenszeichen von ihnen, nicht einmal von Josef, der mit seiner Frau und den Kindern nur wenige Kilometer entfernt wohnte. Aber in den letzten Wochen hatte sich niemand vor die Tür getraut, Xanten war dem Erdboden gleichgemacht worden. Heinrich war nach seinem letzten Besuch dort entsetzt gewesen: »Die Toten liegen auf den Straßen herum. Frauen und Kinder sind darunter. Der Dom ist zerstört und es steht kein Stein mehr auf dem anderen. Es ist schrecklich.«
Umso mehr hoffte Katty, dass tatsächlich ihr Bruder mit seiner Familie vor der Tür stand. Gespannt warf sie die Futtergabel hin und eilte ins Haus. Seit zwei Wochen waren sie nun allein auf dem Hof. Katty hatte kräftig abgenommen, denn sie arbeiteten schwer, und das war sie als Hauswirtschafterin nicht mehr gewohnt gewesen. Vielleicht würde Josef ihr bei der Arbeit helfen, hoffte sie. Sie ging ins Wohnzimmer und war enttäuscht, als Heinrich sie nur vor das Radio zerrte.
»Hier, hören Sie, es sind die Engländer, die in Deutsch senden. Sie gehen über den Rhein. Jetzt, in diesem Moment.«
Katty begriff: Das war das Ende. Heinrich und Katty lauschten angestrengt und hatten Mühe, bei dem Rauschen etwas zu verstehen. Aber gegenseitig versicherten sie sich immer wieder, was sie gerade gehört hatten. Winston Churchill, der britische Premierminister, war in Xanten. Er stand oben auf dem Fürstenberg und beobachtete, wie seine Truppen den Rhein überquerten. Er hatte sich zunächst in Walbeck mit den Feldherren Eisenhower und Montgomery getroffen, berichtete der Sprecher, und sie hielten die Deutschen für endgültig geschlagen.
»Katty, ich will ihn sehen.«
»Wen?«
»Churchill!«
»Den englischen Premierminister?«
»Ja. Ich will den Mann sehen. Er ist unser Befreier.«
»Haben Sie den Verstand verloren? Was stellen Sie sich denn vor? Dass er sich freut, seinen künftigen Untertan zu sehen? Wahrscheinlich werden Sie schon auf dem Weg von Wardt nach Xanten erschossen.«
Einen Moment lang war Katty erschrocken darüber, dass sie so energisch mit Heinrich sprach, aber auch darüber, dass sie sich von Heinrich in seiner Freude anstecken ließ. Immerhin hatten sie gerade den Krieg verloren. Doch Heinrich schien das als eine
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