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Wir sind doch Schwestern

Wir sind doch Schwestern

Titel: Wir sind doch Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Gesthuysen
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Alfred so alt geworden wie ich, hätte er miterlebt, dass seine Neigung nicht mehr bestraft würde. Im Fernsehen zeigten sie mittlerweile Männer, die sich auf offener Straße umarmten und küssten. Das allerdings ging Paula dann doch zu weit. Man musste diese Schwulen ja nicht einsperren, aber sie sollten ihr Anderssein auch nicht gleich zur Schau stellen. Das war ja gerade so, als wären sie stolz darauf. Paula schüttelte den Kopf.
    Sie hätte es heutzutage sicherlich ebenfalls leichter gehabt. Anfang der Sechzigerjahre war sie selbst in einer Stadt wie Duisburg immer »die Geschiedene« gewesen. Die Frauen hatten es hinter ihrem Rücken geraunt, einige waren mit ihren Töchtern auf der Straße stehen geblieben und hatten den Mädchen erklärt, dass Frauen, die sich nicht fügten, geschieden wurden. Manchmal hatte Paula dieses dumme Geschwätz nicht ertragen, dann hatte sie auf dem Absatz kehrtgemacht, war auf Mutter und Tochter zugestürmt und hatte in ausgesuchter Höflichkeit gefragt: »Ich bin Lehrerin, kann ich Ihnen bei der Erziehungsstunde behilflich sein?« Meistens hatten die Mütter ihre Töchter schnell weitergeschleift.
    Inzwischen ließ sich jede dritte Ehefrau scheiden, erklärten sie permanent in den Frauenzeitschriften, die ihre Enkelinnen lasen. Das war nichts Ungewöhnliches mehr, im Gegenteil, man hatte fast das Gefühl, die Frauen betrachteten es als ein Zeichen ihrer Emanzipation, wenn sie sich von ihrem Mann trennten. Lächerlich. Es wurde alles immer gleich so übertrieben. Sie war damit zurechtgekommen, auf eigenen Füßen zu stehen, aber ihr war ja auch nichts anderes übrig geblieben, dachte Paula, sie hätte sich allerdings ebenso gut vorstellen können, einfach nur Mann und Kinder zu versorgen, so wie es eine Zeit lang gewesen war. Das hatte sie glücklich gemacht und hätte ihretwegen gerne bis an ihr Lebensende andauernkönnen. Bei Gertrud und Katty war das anders, ihre Schwestern hatten die Eigenständigkeit mehr genossen. Sie waren eigensinnigere Persönlichkeiten, wollten stärker bestimmen. Paula musste lachen bei der Vorstellung, dass Gertrud einem Manne hätte Untertan sein sollen. Der arme Kerl, schmunzelte sie und fragte sich in diesem Moment, ob sich das Leben dem Schicksal anpasste oder ob es sich umgekehrt verhielt. Wäre Gertrud vielleicht eine sanftere Natur geworden, wenn sie Franz geheiratet und mit ihm Kinder bekommen hätte? Oder wäre diese Ehe gescheitert, noch bevor sie begonnen hätte, auch ohne Franz’ tragischen Tod? Und Katty, wäre sie als Ehefrau vorstellbar gewesen? Natürlich war die kleine Schwester herzlich und liebevoll, aber sie hatte stets einen ausgeprägten Hang zur Macht gehabt. Sie wollte bestimmen, wo es langging. Vielleicht war das der Grund, warum Heinrich Katty nicht geheiratet hatte. Paula wollte den Gedanken gerade weiterspinnen, als Katty ihr entgegenkam und sie freundlich anrempelte.
    »Komm, los, Zeit fürs Elf-Ührken«, sagte sie fröhlich und zog mit einem Tablett an Paula vorbei in die Küche, vermutlich um Nachschub an Leckereien zu besorgen. Ihr fiel der vorzügliche Schweinebraten aus der Küche wieder ein, und Paula beeilte sich, ins Wohnzimmer zu den anderen zu gelangen, wo der Journalist immer noch Fragen stellte.
    »Guter Schnaps als zweites Frühstück, das ist also Ihr Geheimnis«, stellte er gerade fest. Heute, bei seinem zweiten Besuch, schien er sich bereits wohlzufühlen im Kreise der alten Damen. Was mochte er von ihnen denken, fragte sich Paula. Hielt er Gertrud für die strenge, moralische Instanz und Katty für einen Wirbelsturm, der stets den Mittelpunkt für sich beanspruchte und mit vierundachtzig Jahren vergnügt durchs Leben tanzte? Und welches Bild gab sie selbst wohl ab?
    Zum Elf-Ührken saßen inzwischen sechs Frauen am Tisch, die alle durcheinanderplapperten. Nachbarinnen, die gekommen waren, um mit Katty die Geburtstagsüberraschung für Gertrud genauer zu besprechen. Alle hatten sich wie selbstverständlich zu Wollentarski gesetzt.
    Katty kam mit frischen Schnapsgläsern, ein paar Schinkenröllchen und Käseschnittchen aus der Küche zurück. Paulas Magen knurrte, sie hatte auf den Schweinebraten gehofft. Vielleicht würde sie später noch ein Häppchen klauen.
    Der Journalist trank einen weiteren Schnaps, dann nahm er Zettel und Stift erneut zur Hand.
    »Also, welcher Fortschritt, welche Erfindung war für Sie denn in Ihrem Leben«, er korrigierte sich, »nein, in Ihrem ersten Jahrhundert auf der Erde«,

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