Wir sind doch Schwestern
Heinrich die Schnapsflasche und goss sich ein Glas ein. Mit einem Ruck warf er den Kopf nach hinten und ließ die klare Flüssigkeit im Mund verschwinden. Er schenkte nach, und in der nächsten Sekunde verschwand auch der zweite Schnaps.
»Sie haben unsere Kinder getötet«, brach es aus Heinrich heraus, »eine ganze Generation Kinder haben sie elendig verrecken lassen.«
Katty erschrak. Sie hatte selten erlebt, dass Heinrich sich so gehen ließ, und überdies war sie nicht sicher, gegen wen sich seine Wut richtete. Gegen die eben noch gepriesenen Alliierten oder gegen die eigenen Landsleute und den Führer?
»Wir haben keine Kinder mehr. Das ist schrecklich.« Erneut goss er sich einen Schnaps ein und wies Katty an, mitzutrinken.
»Ich trinke auf dich, tapferer junger Mann. Ich wünschte, ich hätte dir den Tod ersparen können.«
Heinrich war wie besessen und redete sich in einen pathetischen Rausch. Dabei trank er weiter, einen Schnaps nach dem anderen. Vielleicht das einzig Richtige in diesem Moment, dachte Katty und beschloss, ebenfalls zu trinken.
Dann überließ sie Heinrich die Flasche und ging hinaus, um eine Schaufel zu holen. Sie wollte ein Grab ausheben, sie wollte den Jungen bestatten, so gut es ging. Später würden sie den Pastor bitten, das Grab zu segnen, aber jetzt musste er erst mal beerdigt werden, im Keller konnte die Leiche schließlich nicht bleiben.
Unter einer Tanne im Garten fand sie einen geeigneten Platz. Hier würde der Junge sich wohlfühlen. Tränen traten ihr in die Augen und vermischten sich mit Schweiß, als sie anfing zu graben. Die Erde war locker und es ging leichter, als sie erwartet hatte. Etwa eine halbe Stunde später stieß Heinrich zu ihr. Er hatte den toten Soldaten im Arm, seinen Körper in eine Decke gewickelt. Einen Arm hatte er in den Kniekehlen des Toten, den anderen in dessen Nacken. Es war die gleiche Haltung, mit der man eine Braut über die Schwelle trug, kam es Katty in den Sinn, und sie schämte sich sofort für diesen unpassenden Gedanken. Der Kopf des toten Soldaten war nach hinten geschlagen und ein Arm baumelte wild umher.
Heinrich ging auf die Knie und Katty war erstaunt, wie zärtlich er den Jungen ablegte. Er musste eine Menge Kraft dafür aufgebracht haben, denn obwohl der Junge sehr schlank war, so war er doch groß. Heinrich nahm ihr die Schaufel ab und grub weiter. Als würde irgendjemand in seinem Kopf eine Trommel schlagen, blieb er im immer gleichen Rhythmus: Schaufel ansetzen, Fuß auf den Rand der Schaufel, durchtreten, ausheben, Erde wegwerfen und wieder von vorne. Ohne abzusetzen, grub Heinrich, bis das Loch groß genug war.
Behutsam legte er die Schaufel neben das Grab, parallel zur Längsseite. Dann ging er ans Kopfende, blickte auf die Schaufel, ging zurück und korrigierte deren Lage. Noch einmal prüfte er, ob Schaufel und Grab wirklich exakt parallel waren, dann war er offenbar zufrieden.
Katty trat einen Schritt zurück und betrachtete Heinrich. Sechzig Jahre war er alt, aber das sah man ihm nicht an. Er hatte nach wie vor diese sehr aufrechte Haltung, die ihm etwas Majestätisches, vielleicht auch Arrogantes verlieh, dachte sie, das kam sicher auf das Verhältnis an, das man zu ihm hatte.
Heinrich war tief bewegt, das sah Katty an seinen Fingern. Er hielt sich gerade und unbewegt, nur seine Finger spielten am Knopf seiner Anzugjacke. Auf – zu, auf – zu. Immer wieder, fast zwanghaft, rückte er alles zurecht, als wollte er in diesem Moment besonders korrekt erscheinen. Heinrich versuchteangestrengt, sich auf etwas zu konzentrieren, um seine Gefühle zu unterdrücken.
»Helfen Sie mir«, sagte er nach einer Weile. Er dirigierte Katty mit dem Kopf zur anderen Seite der Wolldecke, und gemeinsam ließen sie den Leichnam in das ausgehobene Grab hinunter. Als er den Boden berührte, musste Katty sich abstützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sie legten die Decke sanft über den Körper, nur das Gesicht ließen sie frei. Andächtig stellten sich Heinrich und Katty vor das Grab und begannen zu beten. Es dauerte nicht lange, bis Heinrich seinen inneren Kampf verloren hatte und hemmungslos weinte. Katty konnte sich nicht erinnern, ihn jemals so gesehen zu haben. Heinrichs massiger Körper schüttelte sich, dann sank er auf die Knie. Er jammerte, hustete und rief den Namen seines Sohnes. Der Schmerz, den er bis zu diesem Moment mit aller Kraft verdrängt hatte, brach sich nun Bahn. Katty schossen ebenfalls Tränen in die
Weitere Kostenlose Bücher