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Wir sind doch Schwestern

Wir sind doch Schwestern

Titel: Wir sind doch Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Gesthuysen
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Augen, und zum ersten Mal seit der Nachricht von Theodors Tod trauerten sie gemeinsam. Sie kniete sich neben Heinrich und nahm ihn in den Arm. Ohne weiter darüber nachzudenken, hielt sie Heinrichs Kopf in den Händen und strich ihm liebevoll die Tränen aus dem Gesicht. Er wirkte in diesem Moment so zerbrechlich wie Theodor, als er noch ein kleines Kind gewesen war. Heinrich vergrub sein Gesicht an Kattys Schulter. Sie fühlte etwas Feuchtes an ihrem Hals und fragte sich, ob es Heinrichs Tränen waren oder seine Lippen. Ihr war schwindlig, sie war benebelt vom Birnenschnaps auf beinahe nüchternen Magen und ihre Augen brannten vom Weinen. Auf einmal küsste Heinrich sie auf den Mund, dann stand er auf und streckte ihr die Hand entgegen.
    »Komm mit«, sagte er und führte sie ins Haus.

Der 100. Geburtstag – Samstag
Bratkartoffelverhältnis
    Es war ihm peinlich gewesen, das hatte Katty sofort gemerkt. Obwohl die Frage an sich keinen Grund dafür hergab. Es war wohl mehr ihre eigene Reaktion gewesen, aus der er geschlossen hatte, dass er zu forsch gewesen war.
    »Waren Sie und Heinrich Hegmann eigentlich ein Paar?«, hatte Wollentarski wissen wollen, und Katty hatte keine Antwort gegeben. Sie hatte Wollentarski angeschaut und nach einer Antwort gesucht, aber sie hatte keine gefunden. Sie hatten im Flur gestanden, Katty hatte den Journalisten hinausbegleitet. Sie hatte ihm gedankt für die sensible Art, die er bei Gertrud an den Tag legte, und ihn für den nächsten Tag zur Feier eingeladen. Und dann, als sie schon die Tür geöffnet hatte, hatte er sich umgedreht und diese eine Frage gestellt. Erst hatte sie geschwiegen, und als ihr nichts Besseres eingefallen war, hatte sie sich eine so persönliche Frage einfach verbeten. Das war nicht besonders diplomatisch gewesen, tadelte sie sich, während sie ihm nachsah. Er war eilig in seinen Volvo gestiegen und fuhr nun so schnell vom Hof, dass der Kies zur Seite spritzte. Endlich schloss sie die Tür. Es war schon so lange her, ein halbes Jahrhundert, ein halbes Leben. Niemals hatte sie darüber gesprochen, mit niemandem. Nicht mit ihren Schwestern, nicht einmal mit Heinrich. Es gab keine Zeugen für das,was in dieser Nacht passiert war, und manchmal fragte sie sich, ob sie sich das alles nicht nur eingebildet hatte. Sie wusste nur noch, dass sie am nächsten Morgen in Heinrichs Bett aufgewacht war und nicht im Stall. Er war schon aufgestanden, und als sie in den Stall gekommen war, war er so aufgeräumt gewesen wie in den Tagen zuvor. Er hatte sie begrüßt, und Katty hatte nichts Besonderes an ihm erkennen können. Er hatte nichts gesagt, und so hatte auch sie beschlossen zu schweigen. Und dann war es bereits vergessen gewesen.
    Aber bis heute wusste sie genau, an welcher Stelle im Garten sie den jungen Soldaten beerdigt hatten. Wer der junge Mann gewesen war, hatten sie nie herausgefunden. Sie wussten auch nicht, wer ihn auf dem Gewissen hatte. Waren es die Alliierten in der dramatischen Schlacht um Xanten? Oder war der Junge ein Deserteur gewesen? Es war Spekulation. Nach Kriegsende war er umgebettet worden und hatte einige Jahre auf dem Wardter Friedhof gelegen, zusammen mit anderen namenlosen Soldaten, und 1951 waren dann alle erneut exhumiert und zum Soldatenfriedhof Niersenbruch gebracht worden.
    Die drei Wochen allein auf dem Hof waren eine dramatische Zeit gewesen, aber keine unglückliche. Es war, als hätten Heinrich und sie dort in einer anderen Welt gelebt, ein anderes Leben gehabt. Sie waren abgekapselt von der Außenwelt, Gefangene der Kriegswirren und doch merkwürdig frei. Die alten Herren waren noch nicht weg, aber schon geschlagen, die neuen noch nicht da. Es war so etwas wie zuversichtliche Anarchie gewesen. Katty schmunzelte darüber, dass ausgerechnet sie dem Wort »Anarchie« ein positives Attribut gab. Sie schaute auf die Uhr. Es war bereits eins durch, und sie hatte Hunger. Bratkartoffeln wären jetzt genau das Richtige. Bratkartoffeln mit Speck und Zwiebeln.
    Die Frauen im Wohnzimmer waren in bester Stimmung,wie sie hören konnte, auch Gertrud. Gut so, dachte Katty, so soll es bleiben. Ich will mich nicht mehr mit ihr streiten. Sie nahm den alten Artikel über Heinrichs achtzigsten Geburtstag und ging in das angrenzende Büro, um ihn abzuheften. Die Rheinische Post schrieb, dass Heinrich sich bei ihr bedankt habe für die Treue und Unterstützung. Von »seiner Katty« habe er in aller Öffentlichkeit gesprochen, stand da zu lesen. Vielleicht

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