Wir sind doch Schwestern
hätte sie Wollentarski den Artikel gar nicht zeigen sollen, ärgerte sie sich. Dann hätte er nicht diese kompromittierenden Fragen gestellt. Andererseits hatte er unbedingt begreifen sollen, welche besondere Persönlichkeit Heinrich Hegmann gewesen war. Hoffentlich hatte er das verstanden, sonst würde sie es ihm morgen bei der Feier noch einmal verdeutlichen.
»Wer außer mir möchte ein paar leckere Bratkartoffeln mit Spiegelei zum Mittagessen?«, erkundigte sie sich, als sie ins Wohnzimmer kam. Alle streckten die Finger in die Luft.
»Wunderbar! Könntest du mir kurz helfen?«, fragte Katty ihre Nachbarin. Die junge Frau begriff sofort. »Natürlich«, antwortete sie und ging mit Katty in die Küche. Sie mussten dringend über die Überraschung für den Abend sprechen, die sie gemeinsam vorbereitet hatten. Um Mitternacht, in der ersten Minute ihres hundertsten Geburtstages, wollten sie Gertrud vor die Tür locken und ihr ein ganz besonderes Geschenk machen.
Sie hatten ein Mitternachtsfeuerwerk zu Ehren ihrer Schwester geplant.
8. Mai 1945
Endlich Frieden
Gertrud hörte die Gewehrsalven und beobachtete den Jubel der Festgäste. Einer warf seinen Hut in die Luft, ein anderer rief »Hurra!«. Der 8. Mai war ein Freudentag. Es hatte sich herumgesprochen, dass Generaloberst Alfred Jodl in den Ardennen die bedingungslose Kapitulation unterzeichnet hatte. Endlich war es vorbei, endlich waren sie frei, und endlich hatten sie sich wiedergefunden. Doch der Friedensschluss war nicht der eigentliche Grund für die Feier, vielmehr ihr einundfünfzigster Geburtstag. Wie üblich hatte ihre kleine Schwester die Familie eingeladen. Und da sie sich so lange nicht gesehen hatten, erzählte nun jeder, wie es ihm in den letzten Kriegstagen ergangen war.
Paula war wie die meisten Zivilisten, die am Rhein wohnten, ein paar Wochen in Bedburg-Hau gewesen, wo die Engländer alle Deutschen zusammengepfercht hatten. Auch die Belegschaft des Tellemannshofes war dort zusammengekommen. Hunderte waren in einer Scheune untergebracht worden, es hatte keine vernünftigen Waschräume gegeben, die hygienischen Zustände waren erschreckend gewesen. Gertrud konnte den Ekel ihrer Schwester nachvollziehen, als die erzählte, wie sie gegen Läuse angekämpft hatte. Gertrud gruselte sich bei der Vorstellung, wie viele Tiere sich auf ihren Köpfentummeln könnten, denn alle drei Schwestern hatten auffallend dichtes und dickes Haar. Anfang April, so erzählte Paula weiter, hatte sie Katty endlich eine Nachricht zukommen lassen können und diese hatte ihr umgehend geantwortet.
Gertrud selbst war am längsten für ihre Schwestern verschollen gewesen. Sie hatte zu lange gezögert, hatte ihre Schülerinnen nicht im Stich lassen wollen und war nicht mehr aus dem Ruhrkessel herausgekommen. Die Alliierten hatten eine Kampflinie rund um das Ruhrgebiet gezogen. Erst vor drei Wochen hatte sich Gertrud nach Norden zum unteren Niederrhein durchschlagen können. Es war eine kräftezehrende Flucht gewesen, und obwohl sie sonst eher hartgesotten war, fühlte sie sich angesichts der vielen Toten und des Leids hilflos und ausgelaugt. Sie hatte nicht gewusst, ob ihre Wohnung in Duisburg noch existierte oder ob alles, was sie nicht auf die Schnelle hatte zusammenraffen können, im Bombenhagel explodiert und verbrannt war. Nach einer Zwischenstation in Mörmter bei ihrem Bruder Josef und seiner Frau José hatte Katty sie auf den Tellemannshof geholt. Gertrud hatte sich dagegen gewehrt, sie wollte nicht bei Heinrich wohnen. Aber als ihre kleine Schwester irgendwann sehr entschieden gesagt hatte, das sei ein lächerliches Gebaren, sie wisse ja, dass Gertrud Heinrich nicht besonders möge, aber im Krieg und angesichts ihres Zustandes sei so etwas nun wirklich kindisch, sie solle mit dem Unsinn aufhören und bis auf Weiteres auf den Hof kommen, hatte sie klein beigegeben. Katty wusste nicht, was damals geschehen war. Sie war zu jung gewesen, um sich zu erinnern, und in der Familie hatte man später nicht mehr darüber gesprochen. Aber in dem Moment vor zwei Wochen, als Katty sie so energisch zurechtgewiesen hatte, war sie zu schwach und zu bedürftig gewesen, um dagegenzuhalten. Gertrud hatte zugestimmt und beschlossen, schnell zu Kräften zu kommen, um Heinrichs Gastfreundschaft nicht länger als nötig in Anspruch nehmen zu müssen. Sie riss sich also zusammen und versuchte, Heinrich möglichst nicht in die Quere zu kommen. Sie musste zugeben, dass er sich sehr
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