Wir sind doch Schwestern
herauszulesen, ob die ahnte, worum es ging. Sie fühlte sich bestätigt, denn Katty tat, als hätte sie nichts gehört.
»Über Heinrich Hegmann«, setzte sie nach und fixierte Katty, die nicht aufsah, sondern den Blick auf das schmutzige Geschirr geheftet hielt.
»Katty, habe ich dir jemals erzählt, warum ich Heinrich so verachte?«, ging sie ohne weiteres Zögern in die Offensive.
Ihre Schwester runzelte die Stirn. »Musst du immer so übertreiben? Du bist nur wütend auf ihn, weil er damals nicht einverstanden mit der Verlobung zwischen Franz und dir war. Aber das ist eine Ewigkeit her, was fängst du denn jetzt davon an?«
»Er hat seinen Bruder in den Krieg geschickt, Katty. Heinrich Hegmann ist kein guter Mensch. Er mag ein guter Politiker und ein begabter Kaufmann sein, aber er ist kaltblütig, wenn es um seine Interessen geht.«
»Nun mach mal halblang. Es wurden alle eingezogen. Wäre Heinrich der jüngere Bruder gewesen, hätte es ihn getroffen. Aber das kannst du ihm doch nicht vorwerfen! Das ist doch nicht seine Schuld! Mein Gott, es sind so viele Menschen gestorben in diesen beiden furchtbaren Kriegen. Kannst du denn nicht glücklich sein mit denen, die noch leben?«
»Katty, sei nicht naiv, Heinrich hat Franz vom Hof geschickt und ihn damit absichtlich dem Militär überlassen. Und das wusste er auch, das war kein Zufall. Er hätte ihn davor schützen können. Und weißt du, warum er ihn nicht auf dem Hof behalten hat, weißt du, was der einzige lächerliche Grund dafür war?«
Katty antwortete nicht, deshalb gab sich Gertrud die Antwort selbst. »Weil er mich heiraten wollte. Und weil ich für einen Hegmann nicht standesgemäß war.« Sie schaute Katty durchdringend an und glaubte, ein Schlucken gesehen zu haben. Sie hatte das Wort »standesgemäß« Silbe für Silbe betont und gedehnt, und Katty schien verstanden zu haben, was sie damit sagen wollte. Ganz entgegen ihrer Art diskutierte ihreSchwester nämlich nicht weiter, sondern schwieg. Sie sah ein bisschen blass aus.
»Ist etwas zwischen euch vorgefallen?«, fragte Gertrud deshalb und bemühte sich um einen sanfteren Tonfall. »Katty, sprich mit mir darüber, bitte. Glaub mir, ich kenne diese Familie.« Und ich kenne dich, fügte sie in Gedanken hinzu, denn sie sah Katty an, dass sie mit ihrer Vermutung richtiglag. Dennoch log ihre kleine Schwester.
»Natürlich nicht«, schnaubte diese und versuchte sich empört zu geben. Gertrud merkte ihr Enttäuschung an, vielleicht sogar Traurigkeit, aber sie wusste, dass Katty sich jetzt nicht trösten ließe.
»Was auch immer geschieht, lass dich nicht auf ihn ein. Er wird dich niemals heiraten. Er kann dich nicht heiraten. Es war doch wirklich nichts zwischen euch, oder?«
»Nein!«, antwortete Katty mit Nachdruck. »Der ist auch viel zu alt für mich.«
»Das stimmt, und mit sechzig denkt man außerdem eher ans Vaterland als ans Vaterwerden«, versuchte Gertrud die Situation zu entspannen, merkte aber schnell, dass es nicht gelang. Katty schenkte ihr einen undefinierbaren Blick. Es war, als hätte sie sich eine Maske aufgesetzt, und genauso wirkte ihre Erklärung auf Gertrud: ein bisschen zu perfekt, um wahr zu sein.
»Es ist doch alles ganz harmlos. Theodor hat Heinrich gebeten, für mich zu sorgen, solange er lebt. Und das hat er mir versprochen. Das ist alles. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Kein Grund zur Aufregung.«
Gertrud blieb argwöhnisch, aber sie sah ein, dass es keinen Zweck hatte, zu insistieren. »Dann ist es ja gut. Benimm dich weiterhin ordentlich. Du hast eine großartige Stellung auf dem Hof. Etwas Ähnliches findet man heutzutage nicht so schnell.« Sie nahm ihre kleine Schwester in den Arm, nach einem Moment sagte sie:
»Danke für das schöne Geburtstagsfest!«
»Herzlichen Glückwunsch!«
Katty hatte sich offenbar wieder völlig unter Kontrolle. Sie küsste Gertrud auf die Wange und gemeinsam gingen sie zurück in den Garten.
Der 100. Geburtstag – Sonntag
Mitternachtsständchen
»Drei, zwei, eins«, zählte Katty im Rhythmus des Atomzeitweckers an, dann legten sie los und schmetterten Gertrud ein Ständchen: »Sie lebe hoch, sie lebe hoch, hoch, hoch, sie leeeebeeee hoooooch!«
»Den Text konnten wir uns gerade noch merken«, krächzte Paula, sehr zu Kattys Vergnügen, »zu mehr waren unsere alten Gehirne leider nicht in der Lage. Alles Liebe zum Geburtstag, Gertrud.«
Es war gerade Mitternacht, die erste Minute des 8. Mai war angebrochen und Gertrud war
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