Wir sind Gefangene
unterdessen um eine Wohnung«, sagte ich zu Hobrecker und verschwand um die Ecke. In der Schellingstraße, im dritten Stock eines Hauses, mietete ich ein Zimmer mit zwei Betten. Dickbestaubt war alles. Nach Moder roch es. Nichts war eingerichtet. Beinahe kriecherisch freundlich wurde die alte, gänzlich weißhaarige Logishalterin, als ich sagte: »Gut, ich nehm' das Zimmer. Gleich nachher zieh' ich ein.« Verdattert sagte sie zu und fing sogleich nervös zu arbeiten an. Bei Hobrecker war auch schon Selma.
»Ist schon alles erledigt! ... Reg' dich nicht auf ... Ein schönes Zimmer hab' ich«, rief ich, und wir marschierten ab. Bei unserer Ankunft war die neue Hausfrau noch verstörter. In aller Eile hatte sie die Möbel abgestaubt und das Zimmer ein wenig hergerichtet. »Geputzt wird dann morgen«, wimmerte sie und verschwand. Auch Hobrecker verließ uns. Ich versprach, ihn morgen auf seinem Zimmer aufzusuchen. Dampfend von Schweiß, begann ich gleich auszupacken und einzurichten. Selma hockte wie ein zusammengebrochenes Häuflein Elend auf einem Bett und weinte. »Leg dich doch nieder! Rast dich bloß aus! Es wird schon wieder werden! ... Mein Gott, es ist halt mal so! Geh weiter, leg' dich ins Bett, komm!« sagte ich tröstend zu ihr. Mechanisch kleidete sie sich aus und legte sich hin. Eilig hängte ich noch etliche Bilder an die Wand und ging ebenfalls schlafen.
Durch das Dunkel klang das Seufzen und Stöhnen Selmas, dann verfiel sie ins Husten, richtete sich auf und rang nach Luft, und schließlich, als der Anfall vorüber war, fiel sie wieder schwer ins Kissen zurück und brach in ein hemmungsloses, lautes, verzweifeltes Schluchzen aus.
»Selma? Selma?! Um Gottes willen, sei doch still! ... Mir tut's ja selber weh, sei doch still!« redete ich ihr gut zu und streichelte sie zitternd. Die Brust wurde mir eng. Allmählich beruhigte sie sich wieder.
Ich lag kerzengerade da und bohrte meine Augen unablässig ins schwarze Dunkel. In der Nähe schlug eine Kirchturmuhr. Kein Schlaf wollte kommen. Auf einmal spürte ich beißende Stiche an den Füßen und kratzte. Sie wurden ärger. Auch Selma kratzte sich jetzt. Schwer atmend warf sie sich auf die andere Seite, lag einige Augenblicke still und begann von neuem zu schaben, zu reiben und zu kratzen. Auch mein ganzer Körper juckte nun. »Du! Wanzen!« raunten wir einander zu. Ich stand auf und knipste das Licht an. Als wir die Decken hochhoben krabbelten überall die lästigen kleinen schwarzen Käfer. »Um Gottes willen! Das auch noch!« brachte Selma nur noch heraus und sank auf den kalten Boden nieder. Jetzt war ihre letzte Kraft dahin. Einen Moment wußte ich selber nicht aus und ein. Dann packte ich wieder alles zusammen und fing furchtbar zu fluchen an. Ein Gewimmer nebenan wurde hörbar, ein Schlurfen im Korridor, durch die Milchglasfüllung der Tür fiel gelbes Licht, die Logisfrau meldete sich. Selma warf sich in die Kleider. Ich öffnete und schimpfte drauflos. In der Nachtjacke stand die Alte da und entschuldigte sich flehentlich. Gleich brachte sie das Mietgeld und beschwor mich, still zu sein.
Die ganze Nacht gingen wir auf und ab, lehnten uns ab und zu wieder einige Minuten an die Möbel, sahen durchs Fenster und warteten, warteten. Endlich wurde es draußen grau. Die Straßenbahn hörten wir, das ratternde Heraufziehen der Rolläden, Wagenrollen, Schritte und Stimmen. Selma wusch sich und fuhr ins Geschäft. Ich fing zu suchen an. Ein Bekannter aus dem Simplizissimus hatte mir vor einigen Tagen ein Atelier genannt. Ich ging hin und mietete es. Es war ein großer, heller und freundlicher Raum mit einer kleinen Nebenkammer. Auch die nötigsten Möbel standen hier, und keine Logisfrau gab es mehr, direkt von der Hausbesitzerin mietete man. Atemlos, überglücklich kam ich zu Hobrecker. Wir nahmen einen Zweiräderhandkarren zu leihen, und mittags war der Umzug schon gemacht. Ich telephonierte Selma an und verkündete ihr die Freudenbotschaft. Abends kam sie heim und fiel erschöpft auf einen Stuhl. Sie weinte und weinte. Ich ließ sie gewähren. So wird es das beste sein, dachte ich.
Ich ging herum und richtete ein. Die Hausbesitzerin war freundlich gewesen, die Möbel überließ sie uns ohne Entgelt. Endlich, endlich eine freie, unabhängige Wohnung! Es tobte in mir vor Freude und Befriedigung. Glücklich, wirklich glücklich war ich darüber. Jetzt kannst du arbeiten, tun und lassen, was du willst. Jetzt kannst du anfangen mit einem eigenen Leben,
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