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Wir sind Gefangene

Wir sind Gefangene

Titel: Wir sind Gefangene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oskar Maria Graf
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Sonntagskleider an, holte mein Sparkassenbuch aus der Matratze des Gesellenbettes und machte mich auf den Weg nach Aufkirchen, denn dort war die Sparkasse.
    Mein Entschluß war gefaßt: Ich gehe. Aber erst das Geld. Auf dem ganzen Weg grübelte ich genau darüber nach, wie ich es von der Buchhalterin am besten und harmlosesten herausbringen könnte. Es schlug schon fünf Uhr. Ich beeilte mich. Um sechs Uhr konnte das Fräulein schon nicht mehr da sein. Am Ende hat es auch jetzt schon zugemacht und ist spazieren gegangen. Eine furchtbare Angst erfaßte mich abermals. Ich schleuderte meine Füße nach vorne. Keuchend lief ich die Anhöhe hinauf. Von da aus konnte man weit über die Felder sehen. Ein klarer Spätherbsttag war. Düngergespanne hockten mitten in den Stoppelfeldern. Über braune Äcker krümmten sich Pflüge, mit langsam dahintrottenden Ochsen bespannt. Eine sanfte Stille war ringsum. Wenn sie mir aber das Geld nicht gibt?, schoß jäh durch mein Gehirn. Ich überlegte bereits, ob ich nicht im Wald schlafen und am andern Tag einfach losgehen sollte. Aber trotzdem schritt ich straffer voran.
    Auf der Sparkasse traf ich wirklich das Fräulein noch. Es schaute mich mit seinen alten, wässerigen Augen durch die Brille an, fragte nach meinem Begehren und schnupfte. Die Buchhalterin nämlich war eine sechzig jährige alte Jungfrau mit den Allüren einer milden Oberlehrersgattin. Ich spielte den braven, schüchternen Schulbuben und sagte sehr gesittet: »Grüß Gott, Fräulein Waschmitzius, einen schönen Gruß von meiner Mutter, ich soll das Geld abholen, weil ich einen Anzug kriege.« Die Waschmitzius sah mich etwas mißtrauisch an, aber weil ich furchtbar unschuldig dreinsah, lichtete sich ihr verrunzeltes Gesicht auf. »Soso ... jaja ... vom Bäcker Graf bist du... Der Oskar? ... Jaja, aber da mußt du unterschreiben«, sagte sie und fragte mit ihrem Blick. »Jaja«, sagte ich noch scheinheiliger, »das weiß ich schon, das hat mir meine Mutter schon gesagt... Es hat sonst keiner Zeit zum Kommen ... Es gilt schon.« Sie trippelte mit dem hingereichten Sparbuch zur Kasse, zählte mir das Geld her, und ich unterschrieb. »Zähl's noch mal nach«, sagte sie.
    Ich tat es. Dreihundert Mark. Zehn Zwanzigmarkscheine und eine Hundertmarkbanknote. »Jaja, stimmt ganz genau, Fräulein Waschmitzius«, sagte ich abermals sehr verbindlich und versuchte sogar zu lächeln. Dann steckte ich das Geld ein, sagte »Dankeschön« und ging. Auf der Straße erfaßte mich ein großes Triumphgefühl. Ich ging sehr schnell aus dem Pfarrdorf und fing auf einmal laut zu lachen an. Eine Hitze lief körperauf und körperab. Ich freute mich schon auf die Bahnfahrt, denn jetzt war alles abgemacht und fest in mir.
    Zu Hause schlich ich durch die Scheune auf mein Zimmer und horchte eine Zeitlang. Niemand ließ sich hören. Ich hatte meinen Koffer vom Heuboden heruntergenommen und ging, nachdem ich fertig war, ganz laut - wußte ich doch, daß Max Mist aufs Feld fuhr - die Stiege herunter. Mutter kam aus der Küche heraus. Sie blieb stehen und sah mich hilflos an: »Was tust' denn?« »Ich geh'!« schrie ich sie an und war schon wieder dem Weinen nahe. Schnell schlüpfte ich zur hinteren Tür hinaus. Eine harte Kugel steckte in meiner Kehle. Kaum atmen konnte ich. Leni lud Dünger auf. Als ich vorbeikam, sah sie mich stumm an. Ich wollte etwas sagen, schämte mich aber und sah weg, dann lief ich schnell weiter. Ich ging ins Etztal hinunter zum Dampfschiffsteg. Auf dem Weg traf ich Nanndl. Sie sagte: »Gehst jetzt?« Ich nickte bloß und sah sie schmerzlich an. Noch lange winkte sie mir. Ich hatte ihr noch hastig gesagt, sie sollte mir die Bücher heimlich nachschicken und manchmal was zu essen. Schreiben würde ich ihr zum Schuhmacher hin. Erst als ich keinen Menschen mehr sah, wurde mir leichter. Es war gleichsam, als würde mir jetzt erst klar, daß ich mich nun nur mehr auf mich zu verlassen habe. Ich schaute noch einmal über die Pferdeweide, die inmitten des Talkessels lag, erinnerte mich an alles, an das Schießen, Indianerspielen, Zerstören und Pferdejagen und mir wurde jämmerlich weich zumute. Aber zwischen diese Gedanken rannen andere von der Stadt, von der Zukunft, alles unklar durcheinander. Ich schluckte fest und ging entschlossener weiter.

IV
IN DER STADT

    Im Zug, unter den vielen fremden Leuten, versuchte ich ein möglichst bedeutsames Gesicht zu machen. Es war mir sehr unbehaglich. Dreimal in meinem ganzen bisherigen Leben

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