Wir sind Gefangene
war ich in die Stadt gekommen. Einmal mit meinem Vater als siebenjähriger Bub, einmal mit meinem Firmpaten und einmal zum Oktoberfest mit meinem Bruder Lenz.
Was mich momentan beunruhigte, war eine Unterkunft. Ich hatte in den letzten Tagen meines Daheimseins fortwährend die Zeitungen nach möblierten Zimmern durchgesehen. Auch in der Bahn saß ich nun, in die Zeitung vertieft, und verfolgte aufmerksam die Rubrik »Zimmer zu vermieten«. Immer fing ich wieder von vorne an, teils aus Nervosität, teils aus Angst. Aber wenn ich an mein Geld und an meine mitgenommenen Habseligkeiten dachte, wurde mir wohler zumute. Ich malte mir ein gemütliches Dichterdasein aus. So ungefähr: Ein Zimmer mit Diwan. Schön warm. Ich koche mir selbst und dichte. In kurzer Zeit erscheinen meine Werke. Die daheim hören von mir, staunen und kommen zum großen Sohn. Dreihundert Mark! Das war für mich ein unerschöpfliches Quantum. Damit konnte man Jahre leben. Die Bäume peitschten vorbei. Die Felder kreisten. Abendnebel stieg bereits aus den Tälern. Der Zug brauste. Am Bahnhof stieg ich aus, ging an einen Mann heran, der eine rote Mütze aufhatte und fragte, wo man sein Gepäck transportieren lassen könnte. »Ich kann es Ihnen schon machen«, sagte der und musterte meine Last.
Ich sagte, in die Zeitung blickend: »Führen Sie mich Augustenstraße neunundfünfzig-zwei.«
»Haben Sie das Zimmer schon gemietet?« fragte mich der Mann. »Nein, das nicht, aber da steht es ja«, sagte ich unsicher und sah den Mann an, der jetzt meinen Koffer nahm: »Sehn Sie, das Zimmer kann man jederzeit haben ...« Der Mann lächelte. Offenbar merkte er, daß ich vom Lande kam. Das entwaffnete mich vollständig. Ganz hilflos sagte ich: »Ja, aber was soll ich denn jetzt tun?« Der Mann faßte mich gutmütig am Arm, nahm meinen Koffer und sagte gemütlich: »Kommen Sie ..., sehn Sie, da stellen Sie jetzt den Koffer auf der Gepäckaufbewahrung ein, dann gehn Sie in die Stadt und schauen die Häuser an. Wo eine Tafel hängt: »Zimmer zu vermieten«, da gehn Sie hinein und fragen dort, ob Sie mieten können. Haben Sie dann ein Zimmer, dann kommen Sie wieder daher und sagen es mir. Dann bringe ich Ihnen die Sachen hin ... So, jetzt... Hier sind die Zettel... verlieren Sie sie nicht ... Adieu.« Ich sah in stummer Ehrfurcht auf zu diesem Menschen, gab ihm fünf Mark Trinkgeld und ging in die Stadt. Es war mir furchtbar unheimlich zumute. Zum ersten Male in meinem Leben empfand ich so etwas wie Obdachlosigkeit. Eine peinigende Unruhe trieb mich eiligen Schrittes durch die Straßen und Gassen. Mit wahrer Gier suchte ich nach einer Vermietungstafel. In der Zweigstraße fand ich eine. Hastig las ich, rannte die Treppen hinauf, klingelte. Auf einer Emailtafel stand Hotelpension Kronprinz. Ein kleiner, befrackter Kellner öffnete, maß mich musternd und fragte nach meinem Begehren. »Bittschön, sind hier Zimmer zu vermieten? Ich möchte eines«, sagte ich befangen.
»Ja, bitte«, sagte der Kellner und bat mich mit einer Geste, ihm zu folgen. Wir gingen einen langen Gang hinter, dann etliche Treppen höher, schritten wieder einen dunklen, schmalen Korridor entlang, und endlich öffnete der Mann eine Türe, trat in die Mitte des ziemlich kahlen, kalten Zimmers.
»Hier wäre eins für Sie... 's ist einfach und nicht zu teuer«, sägte er. »Was kostet das?« fragte ich und griff schon nach meiner Geldtasche.
»Dreißig Mark im Monat«, war die Antwort. »So - ja, das nehm' ich dann«, sagte ich ohne alles Bedenken und gab ihm eine Hundertmarkbanknote. »Wie lange will der Herr das Zimmer?« fragte der Kellner, den Schein nehmend, offiziell, nahm einen Block aus seiner Brusttasche und schrieb etwas darauf. »Ja ... Auf drei Monate ... Ich weiß aber nichts Genaues ...» stotterte ich verwirrt. »So! ... Gut, also für längere Zeit, nicht wahr?« »Ja, ziehn Sie nur gleich die drei Monate ab«, sagte ich und atmete auf.
»Wie Sie meinen«, meinte der Kellner beflissen und sah mich merkwürdig glotzend an, daß ich unsicher wurde. »Da wird aber doch geheizt? ... Und mein Koffer ist noch am Bahnhof«, sagte ich benommen.
»Jaja, der wird schon geholt... Das macht unser Hausbursche schon«, sagte der Kellner beschwichtigend und fuhr etwas anheimelnder fort: »Geheizt wird auch, wenn Sie es wünschen. Das kostet halt immer eine Mark und dann - was ich sagen wollte -, man gibt natürlich dem Zimmermädchen ein kleines Trinkgeld für die Bedienung und mir fürs
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