Wir sind Gefangene
Bürger.
»Der Kaiser ist an allem schuld! Der muß weg!« ging überall herum. Ludwig Thoma und Großadmiral Tirpitz sprachen in öffentlichen Versammlungen für eine restlose Nationalverteidigung. Der Admiral schwang forsche Phrasen, der Dichter hielt eine sehr schlechte, spießbürgerliche Rede. Eigentlich waren die Leute bloß hingegangen, um die Persönlichkeiten zu sehen. Niemand interessierte sich für die neueste Parole. »Nationalverteidigung!? Nichts als wieder ein neuer Schwindel! Bloß, daß die Kleinen sich die Köpfe einschlagen lassen und die Großen noch mehr ergattern!« konnte ein Mann in einer Bräuhalle unangefochten in die Menge schreien. Die meisten nickten: »Recht hat er!« Viel heftiger rumorte es jetzt. Jeder Erlaß wurde mit höhnischer Gleichgültigkeit übergangen. Mit der Parlamentarisierung wurde auch die Presse freier. Außerdem brach eine neue Reichstagswahlperiode an. Flugblätter und Plakate, Umzüge und neue Lebensmitteldemonstrationen gab es. Tafeln trugen die Leute mit, darauf stand »Friede und Brot«, »Brot und sofortigen Frieden«, und neue Zusammenstöße ereigneten sich da und dort. Viel, viel kühner war die verbitterte Masse. Rottungen gehörten zum täglichen Bild. Durch die Amnestie waren die Revolutionäre wieder frei und arbeiteten mit aller Macht.
Mit jedem Tag fühlbarer geriet die Maschinerie der so fest geglaubten Ordnung aus den Fugen. Es war, wenn man die dunklen, dichten Massen durch die Straßen ziehen sah, wirklich fast so, als sei ein drohender Strom aus seinem eingedämmten Bett gebrochen und überflute alles. Jetzt gab es jeden Tag eine Neuigkeit. Ich ließ alles im Stich. Fast wie im Fieber vergingen mir die Tage. Mit Schorsch rannte ich zu jeder Versammlung. Nur ab und zu kam ich in die Künstlerkreise. Die schienen unberührt. Die gleichen, immer gleichen Diskussionen über Expressionismus, van Gogh und Cezanne wurden da Abend für Abend geführt. »Der Kunst geht es am allerersten an den Kragen!« warf ich dreist und bissig dazwischen: »Die muß ausgerottet werden!« Es kam kein Widerstand. Höchstens lächelte da oder dort jemand ironisch. Eisner sprach in der Schwabinger Brauerei als Kandidat der Unabhängigen und griff seinen Gegenkandidaten von den Sozialdemokraten, Erhard Auer, heftig an. Bissig, heiser und mit einem fanatischen Elan rechnete er mit seinen Gegnern ab. Alles um ihn herum war dicht besetzt. Kopf an Kopf. Er stand auf dem Podium inmitten der hockenden Leute und gestikulierte mitunter wild. Langes Haar, das fast bis auf seine Schultern herabwallte, einen noch zerzausteren Bart hatte er jetzt. Wie ein Apostel sah er aus, nur daß er einen Kneifer trug. »Sie sehen mich so, wie mich Stadelheim der Freiheit übergeben hat!« rief er ungefähr und es klang eine gewisse Eitelkeit aus den Worten. Tosender Beifall umbrauste ihn. »Die Revolution, meine sehr verehrten Anwesenden, wird diese Wahl zuschanden machen. Andere Mächte werden auf einmal auftreten und dem betrogenen Volk die Richtung weisen!« rief er mit starkem Pathos. »Und wer seine Stimme jenen Bewilligern der Kriegskredite gibt, jenen Verbrechern, die das ganze Elend dieses blutigsten Massenmordes mitheraufbeschworen haben! - wer das Auerlicht wählt, der bestätigt dieses Verbrechen als rechtmäßig!« »Nieder mit den Verrätern!« schrie es von allen Seiten. »Hinter Schloß und Riegel mit Auer!« folgte darauf.
»Hoch die USPD!« schloß es. Nach einer Mahnung, keinen Zug zu bilden, verließen die Massen den Saal.
Etliche Tage darauf hielten die Demokraten eine Versammlung im Wagnersaal ab. Der bekannte Professor Max Weber erging sich über die »Politische Neuordnung Deutschlands«. Für die Einheit des Reiches, für Abdankung des Kaisers, für die völlige Neuorientierung der äußeren Politik sprach er. »Der Ruf, der jetzt in Bayern so gefährlich umgeht, der Ruf >Los von Preußen< ist ein Verbrechen und eine Dummheit!« rief er einmal. Groß, ruppig, mit einem Bratenrock, solid und badisch-demokratisch stand der hochgewachsene Mann da. Gewandt und männlich parierte er die Zwischenrufe. »Die Antwort, ob eine Nationalverteidigung kommt oder nicht, muß die Front geben!« sagte er trocken. Gegen den Militarismus redete er scharf, Tragung der Kriegslasten durch Besteuerung des Besitzes forderte er.
»Es ist ein Unsinn, es wäre ein Verbrechen, es ist unmöglich, daß die bürgerliche Gesellschaft durch eine Revolution in einen Zukunftsstaat auf sozialistischer
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