Wir sind Gefangene
Grundlage überführt werden kann!« rief er kalt in die einstürzenden »Oho«-Rufe. »Den Feind hätten wir im Land und später eine Reaktion in schlimmster Form!« antwortete er. Gelächter erhob sich auf Seiten der zahlreich erschienenen Revolutionäre. Hitzige Zwischenrufe gab es, in der Diskussion sah ich zum erstenmal Erich Mühsam wieder. Er schrie zeternd: »Man frage doch die Fronttruppen, wie sie zum Frieden stehen!« und forderte die Frauen auf, immer mehr und immer mehr Friedensdemonstrationen zu machen. Ich zitterte am ganzen Körper, als ich auf dem hohen, halbüberkuppelten Rednerraum stand, und schrie ungeschlacht: »Die Revolution wird kommen! Sie kommt! Ich fordere die Soldaten auf, den Befehl zu verweigern und aus den Kasernen zu gehen!«
Eine Schimpfflut und ein Sturzbach von Beifall kamen aus der Tiefe. Ich brach unvermittelt ab und ging schnell die Stufen hinunter. Da stand auch einer, der seinerzeit, als man ihm den Gestellungsbefehl zusandte, sich geweigert hatte, ihm Folge zu leisten. Der schrie noch lauter: »Jawohl! Die Gewehre vernichten! Einfach aufhören mit dem Schwindel!«
»Schäbige Deserteure!« bellte und zischte es da und dort. So betitelten uns anderntags auch die Zeitungsberichte. »In drei Tagen geht's los! Es lebe die Weltrevolution!« plärrte ein Ungesehener von der Galerie herab auf die Aufschauenden. Die meisten Leute lachten. »Jaja, der Frieden kommt jetzt schon ... Das Hauptquartier hat ihn doch schon angefordert... So was geht nicht von heut' auf morgen«, hörte ich einen dicken, gemütlichen Bürger sagen. Das erschütterte mich fast. So ruhig, so sich auf die »Leitung« verlassend, sprach er's, als mache die schon alles gut. Und wie wunderbar das klang: »Das Hauptquartier hat ihn schon angefordert.« Komisch, dachte ich, zuvor forderte es eine Million neue Soldaten oder Kanonen, jetzt fordert es den Frieden! Ich bin bloß neugierig, ob es nicht die Revolution auch fordert.
Am andern Tag - mit dicken Lettern stand's in den Zeitungen - kam plötzlich die Nachricht vom Kieler Matrosenaufstand. Zum erstenmal stand es schwarz auf weiß da: »Auf allen Kriegsschiffen flatterten nach wenigen Stunden die roten Fahnen. Die Admiralität hat sich den Anordnungen des Soldatenrates unterstellt. Die anrückenden Truppen gingen zu den Meuternden über.«
Schorsch lief mir schon von weitem entgegen mit dem Zeitungsblatt in der Hand. Auf seinem Atelier standen wir gewiß eine halbe Stunde und lasen immer wieder. »Mensch, in Deutschland! Daß es so was in Deutschland überhaupt einmal gibt, hätt' ich nie geglaubt!« rief Schorsch immer wieder.
»Jetzt glaubst du's doch bald, daß die Revolution kommt!« sagte ich. »Jaja, jetzt schon ... Ich bin ja neugierig«, gab er zu. Wenn ich's ganz ehrlich sagen soll, wir waren fast mehr erstaunt als hingerissen davon.
Am selben Abend hatten die Unabhängigen im kleinen Saal des Hackerkellers eine Versammlung einberufen. Als wir hinkamen, hieß es, die Massen seien auf die Theresienwiese. »Du«, sagte Schorsch ganz seltsam, »am End' geht's heut' schon an.« Wir kamen schweißtriefend unter der Bavaria an und hörten eben Eisner über eine dichte Menge in die Dunkelheit schreien: »Ich verpfände meinen Kopf, daß München sich schon in den nächsten Tagen erhebt!« Er schwor es förmlich. Mich überrieselte es. »Kiel! So losgehen wie in Kiel!« schrien einige und machten auch Anstalten, dies zu tun.
»Lockspitzel! Nicht provozieren lassen !« warnte ein Mann mit wahrer Stentorstimme.
»Abwarten!« hörten wir da und dort. Und schließlich ging man doch wieder auseinander. Die meisten Leute brummten. Einer sagte sackgrob: »Der damische Hund! Der sagt auch ewig, es geht an und tut doch nichts ... Bloß, daß er Anhänger kriegt!« Auch ich war enttäuscht. Überall klang das Kieler Beispiel als Aufmunterung von Ohr zu Ohr. Und kein Mensch konnte den wirklichen Grund angeben, warum man nicht jetzt, gleich, sofort anfange mit der Revolution. Das machte mißtrauisch.
Die Zeitungsberichte am andern Tag über diese Versammlung im Dunkeln waren ziemlich ironisch. »Siehst du, so machen die's, wenn nichts geschehen ist... Alles wird lächerlich gemacht und die ganzen Leute werden wieder abspenstig«, schimpfte ich Schorsch gegenüber und kochte vor Wut. Es bliebe nichts übrig als der Einzelterror, meinte ich. Es war mit mir in jenen Tagen fast so, als läge ich in einem ewig schüttelnden Bottich und würde unausgesetzt hin und her
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