Wir sind Gefangene
verhetzt, die Stadt drohe auszuhungern, redete man herum. Beim Wort »Landbevölkerung« schnellte ich auf einmal auf und schrie ungeschlacht ein paar unsinnige Brocken in die erschreckte Versammlung.
»Auf dem Land kümmert sich kein Mensch um die Revolution! Und wenn da einer von den Herren, die hier sind, hinausgeht, lacht man ihn aus!« brüllte ich bissig und glitt schon wieder in Verwirrung: »Überhaupt muß erst einmal gegen die reaktionäre Bürgerschaft vorgegangen werden ... Die republikanische Schutztruppe ist nichts wie ein Studentenheer, das man auf die Arbeiter hetzt ... So geht das nicht! Kein Arbeiter versteht mehr, was eigentlich gewollt wird, weil alle so geistig daherreden!«
Die meisten standen auf und redeten auf mich ein. Nur der Mann mit dem Vollbart sah wie befriedigt nach mir.
»Um Gottes willen, Graf, wir dürfen keine Hetzreden halten, sonst gibt's ein Blutbad!« sagten Katzenstein und Wolfenstein hastig. »Solche Brandreden sind äußerst gefährlich!« Alles suchte mich zu besänftigen. »Ist doch auch wahr! Das ist überhaupt nichts als Geschwätz und keine Revolution!« schimpfte ich aus purer Abneigung gegen diese Gesellschaft: »Lauter Literaten!«
»Hans Ludwig Held!« rief der Versammlungsleiter, und jener festunterwachsene Mann erhob sich und hielt eine mächtige Rede gegen den Intellektualismus.
»Mein Vorredner hat recht!« rief er. »Was er über das Landvolk sagt, stimmt! Sie , meine Herren, dürfen sich auf dem Land nicht sehen lassen!« Da und dort entstand entrüstete Unruhe.
»An uns liegt's, meine Herren! Revolution kann nicht aus dem Hirn wachsen, sie muß vom Menschen kommen!« fuhr er fort und fand phantasievolle Ausdrücke über die neue Zeit, kam dann ins Religiöse und zitierte polternd Mystiker. Ich schlich mich unbemerkt davon. Daheim fand ich einen Brief von Pegu. Auch da stand wieder der Satz: »Es kommt auf die Menschen an!«
Ich hielt es nicht aus, so allein. Ich wollte zum Fräulein gehen, aber es war schon sehr spät. Ich lief zum Holländer und trank viel, daß mich die ganze Tischrunde anstaunte. Dieses Saufen hatte fast stets den gleichen Verlauf: Zuerst saßen wir gemütlich zusammen, wurden heiterer, dann ausgelassen, und wenn ein bestimmtes Stadium erreicht war, fing eine unerklärliche Gereiztheit an. Nicht selten endete alles mit einem wüsten Streiten und Schimpfen. Marietta sprang auf einmal aus einem unwichtigen Anlaß auf, versetzte dem Holländer eine schallende Ohrfeige, schlug Krach, die beiden rauften, dann fing Marietta das Demolieren an und lief schließlich mit zwei Malern weg. Der Holländer und ich blieben allein zurück. Im Rauchzimmer saßen wir uns eine Weile schweigend gegenüber. Der reiche Mann war sehr bedrückt, zupfte und zwirbelte in einem fort an seinem dünnen Schläfenhaar und verzog manchmal ärgerlich sein Gesicht. Ich war nicht betrunken und empfand sehr deutlich, daß der Mann mit mir reden wollte. Aber was ging mich das alles an. Ich wollte gehen. Er hielt mich zurück. Ich setzte mich wieder.
»Hm, das ist ja sehr dumm alles«, murmelte ich nebenbei. Er schwieg.
»Sie sind ein reicher Mann, ich bin ein bäuerlicher Prolet ... Wir stehn weit auseinander ... Eigentlich sind wir Feinde, aber sehn Sie, da auf einmal - da sind wir ganz gleich ... Sie sind im Dreck und ich bin im Dreck«, sagte ich nachdenklich.
»Ach was, reicher Mann! Prolet! Ach was, ach was!« wehrte der Holländer ab.
»Jaja, das ist ja auch nicht weiter wichtig!« sagte ich und setzte in bezug auf Marietta beiläufiger hinzu: »Die wird übrigens gleich kommen ... Passen Sie auf, sie kommt herein und erzählt zur Ablenkung eine Räubergeschichte.« Ich bereute meine Offenheit, aber der Holländer sagte nichts darauf und ich war sehr froh. Vom nächsten Monat ab sollte, wie mir der Professor gesagt hatte, mein Stipendium ein heimgekehrter Student bekommen, und ich mußte wieder schleichhandeln. Es ging kein Geschäft mehr. Außerdem mußte Selma in ungefähr acht bis zehn Tagen aus dem Krankenhaus kommen. Ich war also wieder so was wie ein Hund, der kuschen mußte. Kuschen und sich möglichst geschickt durch alles Widerwärtige winden. Das wahrhaftige graue Elend kroch wieder langsam heran. Am liebsten wäre ich jeden Tag und jede Nacht so beim Holländer gesessen und hätte gesoffen, immer gesoffen und an nichts weiter gedacht. Es läßt sich also leicht denken, warum ich froh war.
Auf einmal läutete es und wirklich kam Marietta.
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