Wir sind Gefangene
Tatsächlich erzählte sie, an der Ecke habe jemand geschossen. Wir beiden Männer sahen uns einen Moment vielsagend an. Ich erhob mich. Der Holländer brachte mich zur Türe und sagte, mir die Hand drückend: »Kommen Sie bald wieder.« Ich nickte und ging.
Jeden Tag, tief am Nachmittag, kam ich ins Krankenhaus und endlich einmal sagte Selma: »Morgen komme ich heraus.«
Ich lief heim, besorgte Essen, räumte das Atelier auf, überzog Selmas Bett frisch und arbeitete aufgeregt herum. Ab und zu blieb ich stehen, besann mich und sagte so, als wäre nun alles in Ordnung: »Jaja! ... Hm, das muß doch gehen.«
In aller Frühe stand ich auf, lief zu Schorsch, lieh mir Geld und kaufte Blumen, stellte einen Strauß in das Schlafzimmer, den anderen auf den Tisch im Atelier. Ich fuhr zum Krankenhaus und holte Selma. Wir redeten wenig auf dem ganzen Weg. Es fiel ihr auf, daß ich so verstört war.
Als wir zu Hause angelangt waren, sagte ich ihr, daß ich bei ihr nicht bleiben könne. Es begann nun eine unbeschreiblich furchtbare Zeit. Tränen, Bitten und Haß wechselten bei ihr ab. Sie durchheulte ganze Nächte, sie durchschrie ganze Tage. Ich wurde vor Mitleid und Abscheu ganz hilflos und rannte die meiste Zeit davon. Auf einem Wohnungsvermittlungsbüro erfragte ich endlich ein Atelier. Erst vor zwei Stunden hatte es die jetzige Mieterin angemeldet. Sie erschrak, als ich kam. »Das Atelier gehört jetzt mir«, sagte ich kurzweg auf alle ihre Einwände.
»Ja, aber ich hab' noch ziemlich viel Holz und Kohlen da«, meinte sie beteuernd.
»Holz und Kohlen gehören zur Wohnung und nicht zur Person ... ich war nämlich selber schon bei der Kohlenstelle und kenne mich aus in diesem Gesetz«, sagte ich fachgewandt.
»Jaja, also morgen, bitte, morgen können Sie einziehen ... bitte nachmittags«, flehte die Bildhauerin förmlich. »Und Holz und Kohlen muß ich also dalassen ... Hoffentlich kriege ich in der anderen Wohnung wieder so viel.«
»Sicher, sicher«, sagte ich und einigte mich schließlich mit ihr, daß ich heute noch meine Möbel bringen könnte. Eine Weile ging ich unschlüssig durch die Stadt und nahm schließlich beim Kohlenhändler den Handkarren zu leihen. Selma saß zusammengebrochen auf dem Diwan und schaute schier geisteskrank drein. Ich redete lange sehr behutsam mit ihr, und sie wurde ruhiger und gefaßter. Ich schleppte einen Tisch, einen Stuhl, meine Schreibmaschine, meine Kleider und Bücher und den Diwan auf die Straße hinunter, lud alles auf, und als ich zur Bildhauerin kam, hatte sie schon geräumt. Mit einer Stecknadel war an die Wand ein Zettel geheftet, darauf stand: »Ich habe gleich geräumt und wünsche Ihnen alles Gute.«
Ich setzte mich auf den Stuhl und ließ mich gehen. Das Auseinandergehen hatte mich ziemlich mitgenommen. Müde und zerrieben war ich. Ich ließ alles so, wie ich es in der Eile hereingestellt hatte, stehen, brachte den Karren zurück und ging in die Stadt. Ich wollte niemanden sehen von meinen Bekannten. Eine unruhige Bedrückung trieb mich straßauf, straßab. Ich wollte in den Landtag gehen, aber der Posten ließ mich nicht durch. Einen radikalen Arbeiter, den ich erst vor einiger Zeit kennengelernt hatte, traf ich zufällig. Ich ging eine Strecke Weges mit ihm und diskutierte.
»Diese Revolution ist schlimmer als das Königreich«, sagte ich. Er gab mir recht.
»Aber laß dir nur Zeit, wir haben bald die Macht ... Erst müssen Waffen her«, sagte er.
»Ja, aber du bist doch Pazifist?!« fragte ich.
»Jaja, das schon ... Aber wir wollen ja bloß einen proletarischen Abwehrkampf gegen die Gegenrevolution ... Da kann man kein Pazifist sein«, gab er mir zurück.
»So ... soso, ich hab' immer gemeint, Pazifismus ist Ablehnung jedes Krieges und aller Gewaltanwendung ... Also haben eigentlich die Militaristen recht gehabt«, erwiderte ich.
Er sah mich an und wußte nicht weiter. »Ja, wenn wir einmal die Macht haben, dann gibt es auch keinen Krieg mehr«, sagte er nach einer Weile wieder und fragte: »Oder was meinst denn du?« »Generalstreik! Einfach einen ganz radikalen Generalstreik. Die Reichen und die Bürger spüren ja noch gar nichts von der Revolution ... Wenn kein Wasser, kein Licht, kein Brot, überhaupt gar nichts mehr da ist, dann ist's aus mit der Gegenrevolution ... Da braucht man nicht schießen, bloß keinen Streich mehr tun«, antwortete ich finster.
»Jaja, jaja, das stimmt schon, das stimmt, aber da macht ja keiner mit«, sagte er, »so was muß
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