Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wir sind Gefangene

Wir sind Gefangene

Titel: Wir sind Gefangene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oskar Maria Graf
Vom Netzwerk:
der Quatsch! ... Der Kerl muß ausgeräuchert werden!« polterte mein Zimmerherr. »Solche Grasesser verwirren bloß!«
    »S-s-st! ... S-s-st!« mahnten die vorderen immer wieder !und warfen böse Blicke auf uns.
    Gusto Gräser kam hereinmarschiert und stieg aufs Podium.
    »Ziegenbock!« plärrte wer. Alles lachte. Andere wieder entrüsteten sich. Gräser machte eine halb segnende Armbewegung und fing seine monotone Predigt an. Ein unverständliches Sammelsurium von Zitaten und verschrobenen Meinungen ergoß sich über die Anwesenden, begleitet von Beifall, Gelächter, Hohnrufen und Klatschen. Vom Geist der Gewaltlosigkeit fing der Apostel an.
    »Ach was Geist! Schnaps brauchen wir!« schrie ich lausbübisch. Unser Tisch fing zu lachen an. Der Lärm wurde stärker. Gusto Gräser redete unbeirrt weiter.
    »Grasfressen und faulenzen ist sinnwidrig!« stichelte ich abermals. »Jawohl! Diktatur des Proletariats!« sekundierten einige am Tisch. Schon stimmten die anwesenden Spartakisten bei. Die Wandervögel gurrten wütend, die Jungfern und Mädchen zischten gehässig. »Nieder mit der Natur! Es lebe die Technik!« schrie mein Zimmerherr. »Spartakus marschiert.«»Wir sind keine Menschen mehr -«, rief Gräser, das andere ging unter. »Nein, Viecher!« warf ich ins Toben.
    »Der große Mittag kommt!« salbaderte der Apostel abermals. »Auf dem Lokus!« schrie Tautz. Nichts hörte man mehr, nichts als ein verworrenes, schimpfendes Redegeräusch. Jeder trompetete jetzt seine Meinung aus. Drollig war es, Gräser stand machtlos oben und schüttelte aur noch ab und zu den Kopf. Ein fanatischer Spartakist stieg auf den Tisch und hielt die übliche Propagandarede:
    »Proletarier! Die Weltrevolution marschiert! Schließt die Reihen um Spartakus! Nieder mit der Bourgeoisie und mit dem verräterischen mehrheitssozialistischen Gesinde!! Die Macht kann nur mit Gewalt erobert werden! Hoch Liebknecht! Hoch Rosa Luxemburg und Lenin!«
    Alles stimmte bei und ging lachend auseinander. »Sehr unterhaltlich! Wunderbar!« hörte man von allen Seiten. Wir gingen mit Schorsch auf sein Atelier und warteten Gräser ab.
»Der muß raus!« stimmten wir alle überein.
    Gräser kam, und wir fingen an, ihn zu verspotten; grob, gemein und absichtlich verletzend stichelten wir auf ihn. Er murmelte bloß ab und zu ein sanftes Wort.
    »Also, bitte, Natur! Natur, Herr Nachbar! Morgen bitte Lager nehmen im Englischen Garten!« sagte ich zuletzt fast drohend, und endlich gingen wir. Erst nach zwei Tagen räumte Gusto Gräser das Feld. Man sah ihn in der Stadt herumlaufen. Stets verfolgte ihn ein Rudel Kinder. Wir erfuhren, daß er sich in einem Ziegenstall eingenistet hatte.
    Es tauchten um jene Zeit massenhaft solche Sonderlinge auf. Einer trug einen langen Zopf und Strohhut, sehr enge, karierte Hosen und eine ebensolche Joppe. Er suchte die Menschenaufläufe und lispelte dann jedem ins Ohr: »Christus sind wir! Seid ruhig, ihr Menschenkinder! Hämmert nicht euer eigenes Kreuz!« Und ebenso hurtig verschwand er wieder. Ein anderer - sehr verwahrlost gekleidet, mit bezwickertem, bissigem Gesicht - saß meistens in den Cafes herum und rechnete. Auf lange, weiße Blätter malte er Tabellen, und wenn ihn wer ansprach, erklärte er ihm schnaufend, wenn jeder täglich nur neunzig Gramm Roggenbrot und zehn Gramm Fleisch äße, wäre kein Elend mehr. Besonders wütend war er gegen die Konditoreiwaren. Stand er vor einer solchen Anlage, dann schimpfte er drauflos: »Da, da, Herr Nachbar, da! ... Sehn Sie's nicht ein! ... Dieser Luxus ist unser Ruin ... Der Zuckerbäcker ist der größte Verbrecher ... Gegen die muß man vorgehn ...«
    Christenmenschen predigten in Versammlungen, Nacktkulturanhänger verteilten ihre Kundgebungen, Individualisten und Bibelforscher, Leute, die den Anbruch des tausendjährigen Reiches verkündeten, und Käuze, die für Vielweiberei eintraten, eigentümliche Darwinisten und Rassentheoretiker, Theosophen und Spiritisten trieben ein harmloses Unwesen. Einmal nachts ging ich über den Stachus. Ein magerer Mensch schoß auf mich zu, steckte mir hastig einen Zettel zu und lief eilends in der trüben Dunkelheit weiter. Ich trat unter eine Laterne und besah den Wisch. Nichts weiter stand darauf als: »Der Jude spricht dazwischen! Deutsche, besinnt euch!«
    Zu alledem stieg die Gärung in den Massen immer mehr. Die bürgerlichen Zeitungen erschienen wieder, aber der Zensurrat redigierte sie. Die sozialistischen Parteien bekämpften sich

Weitere Kostenlose Bücher