Wir sind Gefangene
Kampf bis auf den letzten Blutstropfen. Die Schulhäuser und öffentlichen Gebäude waren wie damals in den Kriegsjahren Kasernen. Aus und ein ging es dort. Trupps und Abordnungen kamen, vollbesetzte Lastautos fuhren von dannen, hinaus zur Dachauer Front.
Im Hotel Vier Jahreszeiten wurden Mitglieder einer antisemitischen, gegenrevolutionären Organisation verhaftet, die heimliche Verbindung mit den Regierungstruppen unterhielten und mit gefälschten Stempeln gegen die Rätediktatur arbeiteten. Die Zeitungen meldeten, daß sie als Geiseln im Luitpoldgymnasium untergebracht worden seien.
Die Rote Armee wich der Übermacht. Von allen Seiten strömten die Bewaffneten in die Stadt zurück und brachten die grausigsten Nachrichten mit. Überall in der Umgebung hatten die Regierungstruppen schonungslos füsiliert, in Rosenheim, in Starnberg, in Puchheim, in Schleißheim und Perlach. Auch verwundete Rotgardisten, Sanitäter und völlig Unbeteiligte waren die Opfer gewesen.
Die Leitung der Unabhängigen rief zur Ablieferung der Waffen und zum abermaligen Generalstreik auf. Viele gaben Gewehr und Munition ab, gingen heim und kamen nicht wieder. Das Arbeiterheer zerbröckelte. Nur ein Bruchteil hielt in Ohnmacht und Wirrsal stand. Diese wenigen, meist Kommunisten, befestigten sich notdürftig in den Gebäuden.
Flieger kamen wieder durch die Luft. Es regnete Kundgebungen der Regierung Hoffmann. Wieder war darin von gewissenlosen Hetzern, von eigennützigen Agitatoren und landfremden Phantasten die Rede. Nicht als sogenannte »Weiße Garde« kämen die Truppen, hieß es, sondern lediglich als Hersteller von Ruhe und Ordnung, damit der Neuaufbau des sozialistischen Staates und die ruhige Durchführung des Rätegedankens gewährleistet werden könnte. Strenges Gericht für die Rädelsführer der irrgeleiteten Arbeitermassen war angedroht, aber Menschlichkeit ließ man walten gegenüber den Verführten, denn »Genosse Hoffmann sei kein Reaktionär oder Gegenrevolutionär, sondern ein radikaler Vorkämpfer der sozialistischen Bewegung« - und außerdem stünden in Augsburg Lebensmittelzüge für München bereit.-
Die Truppen und Freiwilligenverbände Noskes und Schneppenhorsts schoben sich in die äußeren Viertel, drangen vor und kamen in das Stadtinnere. Mit nie wieder erlebtem Mut verteidigten sich die Arbeiter. Ganz München lief, ganz München erzitterte. Schrapnells surrten, Kanonen donnerten, Maschinengewehre ratterten, Panzerautos spien Feuer, Hausecken brachen krachend ein, hilflos und verzweifelt stürzten die Leute auf die Straße, weinten und jammerten, fluchten und schrien, wirklicher Krieg durchheulte die Luft.
»Geiselmord im Luitpoldgymnasium!« gellte förmlich von Ohr zu Ohr. Die Arbeiter hatten jene Verhafteten und zwei gefangene Regierungssoldaten erschossen.
»Sontheimer tot! Engelhof er erschossen! Landauer ermordet!« war gleichsam die Antwort darauf und jetzt fing bei den Soldaten eine wahre Treibjagd auf verdächtige Zivilisten an. Ein furchtbares Denunzieren setzte ein. Kein Mensch war mehr sicher. Wer einen Feind hatte, konnte ihn mit etlichen Worten dem Tod überliefern. Jetzt waren auf einmal wieder die verkrochenen Bürger da und liefen emsig mit umgehängtem Gewehr und weißblauer BürgerwehrArmbinde hinter den Truppen her. Wahrhaft gierig suchten sie mit den Augen herum, deuteten dahin und dorthin, rannten einem Menschen nach, schlugen plärrend auf ihn ein, spuckten, stießen wie wildgeworden und schleppten den Halbtotgeprügelten zu den Soldaten. Oder es ging schneller: Der Ahnungslose blieb wie erstarrt stehen, die Meute stürmte heran, umringte ihn, ein Schuß krachte und aus war es. Lachend befriedigt gingen die Leute auseinander. Auf großen Umwegen kam ich mit Davringhausen zu einer Bekannten in die Stadt. Dort erfuhren wir, daß Schorsch, Achenbach und viele unserer Bekannten verhaftet seien. Die Bürgerwehr hatte sich zur Aufgabe gemacht, sämtliche Schwabinger Ateliers mit beigegebenen Soldaten durchzustöbern. Wer angetroffen wurde, verfiel der Verhaftung. Ich ließ Davringhausen bei der Bekannten und machte mich auf den Weg. »Mensch, verroll' dich!« raunte mir in einem Hausgang ein Arbeiter zu, der mich erkannte, und erzählte mir hastig, daß mein Atelier durchsucht worden sei. Die Genossen, die dort gewohnt hätten, seien kurz vorher weggegangen. Einer von ihnen sei auf der Straße erschossen worden. Ich gelangte - immerzu geduckt und mit mächtigen Sätzen über die Straßen
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