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Wir sind Gefangene

Wir sind Gefangene

Titel: Wir sind Gefangene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oskar Maria Graf
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rennend - bis zur Dachauer und Augustenstraße. Zwischen ängstlich an die Hauswände gepreßten Menschen wand ich mich weiter, denn am Bahnhof tobte ein besonders wütender Kampf. Vom Stiglmairplatz herunter dröhnte ein Panzerauto und schoß immerfort. Jeder von uns stemmte sich hilfesuchend an die verschlossenen Haustüren, wir jagten Hals über Kopf in das Torgewölbe des Apollotheaters. Das Panzerauto war vorüber. Wir drückten uns wieder auf die Straße und sahen die mörderische Beschießung der von den Arbeitern besetzten Polizeistation. Es krachte, dampfte und das Gemäuer staubte rieselnd auseinander, Fenster klirrten und Splitter flogen. Hartnäckig erwiderten die Befestigten das Feuer, allmählich ließ es nach, immer weniger und weniger Schüsse kamen aus dem Haus. Aus der Marsstraße rückte eine Abteilung Regierungssoldaten mit schußbereit gehaltenem Gewehr vor, erbrach die Tür. Kein Schuß kam mehr aus dem Innern.
    »Die sind alle tot«, sagte ein Mann unter uns. Das Schießen hatte aufgehört, das Panzerauto war schon am Bahnhof vorne. Wir wollten weiter. Eine alte Frau humpelte über die Straße. Vorne an der Ecke legte ein Regierungssoldat an. Es krachte, die Frau fiel und blieb nach einigen Zuckungen liegen.
    »Ja-ja! Um Gottes willen! Um Gottes willen!« schrie ein Mädchen händeringend.
    »Nicht schießen! Nicht schießen!« brüllten wir alle. Ein Knäblein hatte sich unbemerkt aus uns gewunden, lief mit flatterndem rotem Taschentuch auf die Leiche zu. Es knallte schon wieder. Gellend schrie der Bub, machte einige Purzelbäume und lag still.
    »Mörder! Schufte!« schrien alle ohnmächtig und verzweifelt. Fäuste hoben sich. Viele weinten. »Weg! Weiter!« bellte es vorne. Und schon wieder legte der Soldat an. Wir rannten wie irr in den Hinterhof und warteten zusammengeduckt. Jeder schlotterte, jeder hatte ein wutblasses Gesicht. Keiner sagte ein Wort. Wir standen da, wie zusammengepferchte Tiere unter einem losbrechenden Gewitter. »Das sind keine Menschen mehr!« murmelte nach langer Zeit ein alter Mann und rieb sich die Augen aus. »Das sind Viecher! Das sind Metzger!« heulte das Mädchen. Erst nach einigen Stunden wurde es etwas ruhiger. Ich wanderte weiter.
    Überall zogen lange Reihen verhafteter, zerschundener, blutiggeschlagener Arbeiter mit hochgehaltenen Armen. Seitlich, hinten und vorne marschierten Soldaten, brüllten, wenn ein erlahmter Arm niedersinken wollte, stießen mit Gewehrkolben in die Rippen, schlugen mit Fäusten auf die Zitternden ein. Ich wollte aufschreien, biß aber nur die Zähne fest aufeinander und schluckte. Das Weinen stand mir hinter den Augen. Ich fing manchen Blick auf und brach fast um, sammelte mich wieder und sah einem anderen Verhafteten ins Auge.
    Das sind alle meine Brüder, dachte ich zerknirscht, man hat sie zur Welt gebracht, großgeprügelt, hinausgeschmissen, sie sind zu einem Meister gekommen, das Prügeln ging weiter, als Gesellen hat man sie ausgenützt und schließlich sind sie Soldaten geworden und haben für die gekämpft, die sie prügelten. - Und jetzt?
    Sie sind alle Hunde gewesen wie ich, haben ihr Leben lang kuschen und sich ducken müssen, und jetzt, weil sie beißen wollten, schlägt man sie tot.
Wir sind Gefangene!
    Mit großen, verstörten Augen schauten die Leute der Arbeitergegenden auf die Züge und preßten schweigend die Lippen aufeinander.
    Ich kam nach vielen Kreuzundquerläufen zur Ludwigstraße. Da schoß es schon nicht mehr. Das elegante Volk tummelte sich hier und in den Hofgartencafés. Gut gekleidete, beleibte Bürgerwehrler und Lebemänner mit Monokel unterhielten sich geschäftig mit Soldaten und Offizieren, feine Damen spendeten Zigaretten, Zigarren und Schokolade, kokettierten und schäkerten mit den geschnürten Leutnants.
    Ein Zug Verhafteter kam daher. Sofort lief alles darauf los, schrie und johlte, spuckte, schimpfte und drohte. Feine Damen verabreichten heldenmütige Ohrfeigen, altmodische Offiziersfrauen feixten entrüstet und schwangen ihre ausgebleichten Sonnenschirme, Bürgerwehrler versetzten hinterlistige Püffe und die Lebemänner lächelten beifällig. Niemand verwehrte es ihnen.
    Tage hindurch hörte man nichts mehr als Verhaftungen und Erschießungen. Einundzwanzig Mitglieder eines katholischen Gesellenvereins, die ahnungslos eine Versammlung in einem Nebenzimmer abhielten, wurden festgenommen, in einen Keller geschleppt und buchstäblich abgeschlachtet.
    Die Räterepublik war zu Ende. Die

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