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Wir sind Gefangene

Wir sind Gefangene

Titel: Wir sind Gefangene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oskar Maria Graf
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Aktenstücke in den Hof geworfen und verbrannt. Am Isartorplatz erfuhr ich, daß die meisten Erschossenen im Ostfriedhof draußen lägen. Ich wollte in den Friseurladen gehen, um meine Schwester Nanndl zu sprechen. Eine grausige Zahl schlug an meine Ohren. Ich glaubte sie nicht, aber ich ging nicht zu Nanndl hinein. Ich wollte keinen Toten sehen. Ich mußte dennoch zum Ostfriedhof.
    Im Leichenhaus lagen blumenüberdeckt, mit vielen Kränzen beladen und weißblauen Bandern geziert, die gefallenen Regierungssoldaten. Alle gingen vorbei, fast keiner sah hinein. Auch ich nicht. Rechts und links durch die Brettertore, die in die Höfe und Gärten des Friedhofs führen, wankten die vielen Arbeiterfrauen, die geknickten Männer, Mädchen und weinenden Schulkinder, auf die Abfallräume zu, wo die alten Kränze und verwelkten Blumen hingeworfen werden. Mit diesen Trauernden und Suchenden kam ich in einen langen, kellerdumpfen Schuppen mit Seitenfenstern. Auf dem schmutzigen Pflaster lagen die toten Arbeiter. Hingeschmissen, gerade, schief, auf dem Rücken oder auf der Seite. Nur die Füße bildeten eine gerade Linie mit der Hand. Es roch gräßlich nach Blut und Leichen. Man schlurfte auf den rotgefärbten Sägespänen dahin von Mann zu Mann. Um mich herum flüsterten, weinten, klagten und wimmerten die Leute und beugten sich ab und zu nieder auf die Toten, an die man Paketadressen oder kleine Pappendeckel geheftet hatte. Darauf stand der Name oder eine Nummer. Ich konnte kaum mehr atmen, ich wollte davonlaufen, aber es standen viele um mich, hinter und vor mir und schoben mich sacht weiter. Ich starrte sekundenlang an die Wand, dann wieder auf die leblos Daliegenden. Herz, Magen und Darm drehten sich mir. Ich faustete gewaltsam die Hände und raffte mich zusammen. Ich versuchte zu zählen - bis zwanzig, bis vierzig, weiter, bis siebzig, immer noch weiter, bis neunzig, bis hundert und immer noch weiter. Ich zählte nicht mehr. Es ging nicht mehr. Meine Augen zerrannen. Mich fror, ich zitterte. Die meisten Toten waren zerfetzt, der lag im blutigen Hemd da, dem hing aus einer trichterförmigen Halswunde ein Stück Schlagader, dem fehlte der Unterkiefer, diesem die Nase, zwei, drei und mehr Schüsse hatten den ausgelöscht, dort lag einer mit überdecktem Haupt, daneben einer mit halbem Kopf, mit ausgelaufenem Hirn, nur ein kleines Stück Wand vom Hinterschädel war noch zu sehen. Dem hatte man die Paketadresse an die Zehe gebunden, weil alles an ihm zerrissen war, alles nur Blut. Das Weinen und Jammern verstärkte sich. Furchtbar sind die Blicke der Suchenden, der Gehetzten! Als ich herauskam, schien mir, als rieche die ganze Stadt nach Leichen. In Nymphenburg fand ich ein Telegramm vom Fräulein: »Ankomme morgen neun Uhr. Abholen.« Es war Besuch da. Ich würgte das Essen hinunter, ich trank, ich redete auch, aber das war, wie mir schien, gar nicht ich. Die ganze Nacht, im Schlaf, zählte ich immer fort und sah nichts als den stinkenden, grauenhaften Kellerraum. In aller Frühe stand ich auf, gewiß eine Stunde wusch ich mich unablässig, kleidete mich endlich an und fuhr in die Stadt. Einen Blumenstrauß kaufte ich. Er roch schon wieder so wie die Luft da rundherum. Kurz vor der Perronsperre am Bahnhof rief auf einmal jemand hinter mir meinen Namen. Ich drehte mich hastig um. Ein Soldat faßte meinen Ärmel, sagte kurz: »Sie sind Herr Graf, ja?« und führte mich in die Bahnhofswache. Ich atmete fast auf. Der Offizier besah wieder lässig meine Papiere. Die herumlungernden Soldaten musterten mich hämisch.
    »Zur Polizei«, sagte der Offizier. Ich wollte gar nichts sagen, brachte aber doch noch heraus: »Rufen Sie bitte Nymphenburg, Nummer -« »Weiter«, schnitt der Soldat das Wort ab und brachte mich zur Polizei. Ruhig, fast ein wenig höhnisch trug ich auf dem ganzen Weg den Blumenstrauß vor mir her, als müßte ich ihn jeden Moment überreichen. Ich wurde nicht vernommen, sondern gleich in den Vorraum des Gefängnisses geführt. Dort stand ein langer Tisch, gleichgültig nahm mir der Wärter alles ab, was ich bei mir trug. Auch den Blumenstrauß notierte er als eingeliefert. Der Soldat ging. Ein anderer Wärter brachte mich in die Zelle dreizehn. Es war ein Raum mit ungefähr neun Holzpritschen, die vollauf besetzt waren. Außerdem stand auf jedem Fleck wer. Man konnte nicht auf und ab gehen, nur sich notdürftig aneinander vorbeidrängen und hin und wieder an den zwei kleinen, offenen Gitterfenstern ein wenig Luft

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