Wir sind Gefangene
kleingewachsene, schnauzbärtige Mann weiter. Er suchte die Zeitungsblätter zusammen und sagte wieder, was da drinnen stehe, sei lauter Schwindel. »Aber man muß eben zwischen den Zeilen lesen können.«
»Jaja, Schwindel ist genug auf der Welt«, sagte ich mechanisch und bezog es heimlich auch auf mich. Der Buchbinder griff nach einer Broschüre, die auf seinem Tisch lag, und hielt sie mir hin. Es war Tolstojs Sklaverei unserer Zeit . Er fuhr viel eingenommener und in einem auffälligen Schweizer Dialekt fort: »Sehen Sie, der sagt schon die Wahrheit, darum wird er von der Welt als ein Wahnsinniger angesehen. Aber die, die nichts haben, wissen schon, daß er recht hat.«
Ich wurde rot. Das war irgendein bekannter Ton, irgend etwas Verwandtes. Ich kannte das Büchlein und fühlte instinktiv, daß der andere mich noch gerne länger ins Gespräch ziehen wollte. Zugleich packten mich Neugier und Interesse. »Ja«, sagte ich auf einmal leichter. »Wer aber glaubt denn an Tolstoj heute? Ein paar Leute, und die können gar nichts machen gegen eine ganze Welt.« Der Buchbinder sah mich vielsagend an und meinte eindringlich: »Es müssen aber mehr werden, und wenn nur erst einmal ein paar Menschen anfangen und vertreten diese Grundsätze und bringen es den anderen bei, was da drinnen steht, dann werden es viele, und wir haben die Änderung der Welt!«
Das verstand ich nicht. Dumm stand ich da und fragte verlegen:
»Gibt es denn hier solche Menschen?« Auf das schien mein Nachbar nur gewartet zu haben.
»Jawohl«, sagte er jetzt gedämpft gewichtig, »wir sind schon ziemlich viele hier. Auch die Syndikalisten sind bei uns. Wollen Sie einmal mitkommen? Es wird Sie sicher interessieren.« Ich war vollkommen dumm.
»Wie heißt denn dieser Verein?« fragte ich nach einem Augenblick. Der Buchbinder lächelte: »Das ist kein Verein. Das sind Anarchisten. Wir kommen alle Freitage zusammen im Restaurant Glockenbach. Es ist da ein Diskussionsabend. Bald wird wieder eine größere öffentliche Versammlung sein. Wir wollen mit den Sozialdemokraten abrechnen. Das sind nur Bremser und Bürokraten, die die ganzen Arbeiter verdummen.«
Als er sah, daß ich staunend und blöd dastand, ging er wieder an den Tisch und nahm aus der Schublade eine zweite Broschüre, die er mir reichte.
»Da ist eigentlich alles drinnen, was wir wollen. Lesen Sie doch die Sache mal durch und wenn Sie dann Lust haben, dann kommen Sie am Freitagabend mit«, sagte er und verabschiedete sich von mir. Ich ging in mein Zimmer zurück und las Landauers Aufruf zum Sozialismus. Das war die zweite Broschüre, die mir mein Nachbar gegeben hatte. Auf den letzten Seiten standen die »Zwölf Artikel des Sozialistischen Bundes« und darunter war ein blauer Stempel: Gruppe »Tat«, München.
Aber da stand doch gar nichts von Anarchisten. Anarchisten, dachte ich und erinnerte mich undeutlich an Luccheni, den Mörder der Kaiserin Elisabeth von Österreich, an Bombenattentate und furchtbare Verbrecherverbindungen. Ich malte mir im Geiste schon einen dunklen, verborgenen Keller aus, sah vermummte Gestalten, die um das Schicksal dieses und jenes Fürsten würfelten. Eine ungeheure Spannung erfaßte mich, eine Neugier ließ mich nicht einschlafen, Landauers Auseinandersetzungen waren wie weggeflogen. Das mußte ich sehen. Da muß ich hin, das sind Verbrecher, man kriegt einen anderen Namen und verschwindet sozusagen für die übrige Welt. Was konnte mir, wenn ich an Maurus dachte, besser gelegen kommen. Nichts wie los!
Sehr früh am andern Tage stand ich auf, ging auf die Straße und suchte das Restaurant Glockenbach . Während des Dahingehens erstanden schaurige Bilder in meiner Phantasie: Bombenkeller, verwegene Gestalten, Geheimtüren ...
Das war etwas gewaltig Neues, etwas undenkbar Unerhörtes. Das mußte ich kennenlernen. Los! Los! Ich war ganz heiß. Mit wahrer Tollwut suchte ich. Verflucht, wo war denn dieser verfemte Glockenbach? Ich schritt einen Bach entlang. Die Sonne fiel schimmernd auf die gekräuselten Wellen. Drüben war eine kleine Anhöhe.Eine Friedhofmauer zog sich lang hin. Ich sah ringsum. Nichts war zu sehen von einem Restaurant Glockenbach . Ein Schutzmann kam gemächlich des Weges. Ich ging auf ihn zu, nahm schüchtern meinen Hut ab und fragte harmlos:
»Bittschön, können Sie mir sagen, wo hier die Anarchisten zusammenkommen? «
»Wie?« sagte er, »die Artisten?«
»Nein, die Anarchisten«, sagte ich.
Das Gesicht des Schutzmannes verwichtigte
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