Wir sind Gefangene
oder meine Schwester erlaube das nicht oder sonst was.
Die ganze Woche vertiefte ich mich in den Aufruf zum Sozialismus . Das leuchtete mir etwas ein. Aber was hatte denn das mit Anarchismus zu tun? Da kam doch gar nichts vor von Bomben und von Fürstenmord. Immer hieß es da nur ganz harmlos: »Der Sozialistische Bund ist eine Gemeinschaft von Menschen, die mit Hilfe eines Ideales eine neue Wirklichkeit schaffen wollen.« Es wurde ferner von Gruppen, die diese Gemeinschaft, diese neue Menschengesellschaft allmählich gestalten sollten, geredet, von Aufteilung des Bodens und von Umstellung unserer ganzen Lebensart durch den Geist usw.
Zuletzt, als ich mich gar nicht mehr zurechtfand in meiner Verwirrung, kam ich auf den merkwürdigen Gedanken, daß diese schlauen Füchse von Anarchisten vielleicht eine ganz andere Anwendung der Sprache hätten, damit man ihnen nicht auf die Spur komme. Vielleicht hieß diese ganze Abhandlung und die Sache an sich etwas ganz anderes als das Wort, das dastand.
Also Geheimsprache. Ich war befriedigt und wartete bis zum Freitag mit Spannung. An diesem Abend kam mein Nachbar, etwas besser gekleidet, zu mir ins Zimmer und sagte freundlich: »Sin' Sie fertig?« Ich nickte. Wir gingen.
Auf dem Weg erzählte mir mein Begleiter von den Verhaftungen und Haussuchungen, die verschiedene Genossen schon erleiden mußten, und riet mir Vorsicht für alle Fälle. Ich sparte sehr mit Worten und machte ein ernstes Gesicht. Je weiter wir uns von unserer Wohnung entfernten, desto mehr Angst bekam ich. Aber ich konnte mich doch nicht mehr zurückziehen. Heimlich dachte ich: Dieses erste Mal mache ich es, dann auf keinen Fall mehr, lieber ziehe ich aus, damit mich dieser verfluchte Schweizer nicht mehr mitziehen kann. Aber meine Neugier war unbezähmbar und gewann schließlich die Oberhand.
Wir traten in der Sendlinger Straße in ein Wirtshaus, das Gambrinus hieß, tappten durch einen dunklen Durchgang an eine Türe. Der Buchbinder ging voraus und öffnete. Ich folgte ein wenig zitternd. Wir befanden uns in einem rauchigen, schmutzigen Saal, der kahl und ungemütlich aussah. Zirka fünfundzwanzig Leute saßen um die Tische, tranken Bier, sprachen allerhand und rauchten. Wir wurden kaum beachtet. Der Schweizer ging an einen Tisch, redete mit einem bebrillten, zottelhaarigen Mann und stellte mich ihm vor. Schließlich, als der Mann mich anlächelte und mir die Hand drückte, lächelte ich auch. Etliche Männer, die gerade da saßen, musterten mich und dann setzten wir uns hin. An einem Tisch fiel öfters das Wort »Expropriation« oder »Generalstreik«. Dann stand ein Mann mit birnenförmigem Gesicht auf, und es wurde ruhiger. Der Mann dankte uns allen, daß wir so zahlreich erschienen seien und setzte sich wieder. Eine Pause entstand.
Ich war noch immer unklar und gespannter als vorher, denn ich erwartete das richtig Anarchistische erst. Ja, sagte ich mir, schlau, schlau sind sie. Ganz harmlos sitzen sie im Wirtssaal, und auf einmal werden sie irgendeine Bodenluke aufmachen und - nichts wie hinunter in den finsteren Verschwörerkeller. Indessen nichts davon ereignete sich.
»Sprichst du was, Mühsam?« sagte ein Arbeiter zu dem Mann, dem ich vorhin vorgestellt worden war. Andere wieder redeten gleichgültig über dies und das. Man diskutierte über die Sozialdemokratie, über die Polizeispitzel, erzählte Verhaftungsgeschichten, und dann redete Mühsam kurz über die Ziele des »Sozialistischen Bundes«. Als er zu Ende war, wurden Flugblätter ausgeteilt. Eine magere, kleine Frau ging von Tisch zu Tisch und verkaufte den Sozialist , bot allerhand Broschüren von Kropotkin, Landauer, Most und Herve an. Dann sagte Morax - eben jener birnengesichtige Mann - aufstehend: »Wer würde sich bereit erklären, den Sozialist zu verbreiten und sonstige Propaganda zu machen? Auch für schriftliche Arbeiten brauchen wir einen.«
Der Schweizer stieß mich: »Se? ... Dias könna doch Se macha als Schriftstella ...?« Ich glotzte ihn ein wenig verdutzt an und hob den Finger wie ein Schulkind. Reden konnte ich da nicht.
Morax kam freundlich zu mir: »Wollen Sie die Sache von jetzt ab machen?« Ich sagte: »Ja.« Und nickte. Daraufhin übergab er mir einen Stoß Broschüren, einen Pack Sozialist und Flugblätter und gab mir die näheren Anweisungen. Ich sollte sie so unter der Hand den Leuten zustecken und Broschüren auf Versammlungen verkaufen, Flugblätter austeilen und alle Sendungen von jetzt ab in Empfang
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